Personalisierte Medizin – die Zwischenbilanz ist ernüchternd

Informationen aus dem menschlichen Erbgut sollen dabei helfen, Patienten wirksamer und kostengünstiger zu behandeln. Doch die Entwicklung einer personalisierten Medizin ist ins Stocken geraten.

Personalisierte Medizin

Die personalisierte Medizin nutzt das Genom für verbesserte Therapien
Medizin der Zukunft? Die personalisierte Medizin ermöglicht eine maßgeschneiderte Behandlung.

Als im Jahr 2001 das menschliche Erbgut entziffert war, sahen Ärzte eine große Chance: Genetische Analysen sollten Diagnosen verfeinern, neue Therapien ermöglichen und den Einsatz von Medikamenten optimieren1. Die Vision einer "personalisierten Medizin" trieb Forschungsprojekte auf der ganzen Welt voran. Francis Collins, der Leiter des Humangenomprojekts, sah gar vollständige Transformation der therapeutischen Medizin voraus2.

Der Optimismus schien wohlbegründet, denn das Erbgut übt großen Einfluss auf die Gesundheit des Menschen aus. Über 5000 Erkrankungen werden direkt durch Mutationen im Erbgut ausgelöst, andere Genvarianten erhöhen die Wahrscheinlichkeit, an verbreiteten Volksleiden zu erkranken – bei Herz-Kreislauf-Problemen etwa trägt das Erbgut bis zu 40 Prozent zum Gesamtrisiko bei3. Und Tumore werden fast immer von mutierten Krebsgenen ausgelöst.

Genaue Diagnosen und maßgeschneiderte Therapien

Die personalisierte Medizin versprach vor allem in fünf Bereichen große Fortschritte4:

  • Diagnose: Krankheiten bzw. deren erhöhtes Risiko sollten vor dem Ausbruch erkannt werden, um eine frühzeitige Behandlung zu ermöglichen und die therapeutischen Optionen zu erhöhen.
  • Pharmakogenetik: Die Auswahl von Medikamenten sollte möglichst genau dem Stoffwechsel des Patienten angepasst werden. Die Hoffnung war, dass die Dosierung erleichtert, die Wirksamkeit erhöht und Nebenwirkungen vermieden werden können.
  • Persönliche Vorsorge: Das Wissen um die eigenen genetischen Risiken sollte Menschen dazu motivieren, ihren Lebenswandel zu ändern und Krankheiten wirksam vorzubeugen.
  • Bessere Therapien: Wird das Wechselspiel von Erbgut und Krankheiten besser verstanden, könnte dies langfristig zu neuen und wirksameren Behandlungsformen führen.
  • Gentherapie: Ein zielgenauer Eingriff in das Erbgut kann seltene Erbkrankheiten lindern, wird aber auch etwa für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Betracht gezogen.

Nach zwanzig Jahren Forschung fällt die Zwischenbilanz jedoch mager aus5,6. Die Diagnose seltener Erbkrankheiten ist nun deutlich einfacher13, aber die Risikoabschätzung für verbreitete Volkskrankheiten hat nur wenig an Genauigkeit gewonnen. Einzelne Medikamente, etwa gegen Mukoviszidose7 und AIDS8, dürfen nur nach einem genetischen Test verschrieben werden, aber insgesamt bleibt der Pharmakogenetik nur eine Nischenrolle.

Ob das Wissen um genetische Risikofaktoren das eigene Verhalten beeinflusst, ist weiterhin fraglich. Wirksame Therapien, die auf neuen genetischen Erkenntnissen und Assoziationsstudien beruhen, bleiben Mangelware. Und Gentherapien können zwar nun eine Handvoll seltener Krankheiten lindern, bei verbreiteten Leiden kommen die Bemühungen jedoch kaum voran.

Komplexität unterschätzt

Als große Hürde erwies sich die unerwartete Komplexität, die die Beziehung zwischen Erbgut und Krankheit prägt. Anfangs gingen viele Forscher davon aus, dass einige wenige Genvarianten einen prägenden Einfluss auf viele menschliche Erkrankungen haben. Heute ist klar, dass meist dutzende, wenn nicht sogar hunderte oder tausende Genvarianten analysiert werden müssen, um nur einen Teil der genetischen Prägung zu entschlüsseln14. Die Vorhersage und Diagnose wird damit extrem schwierig, das Aufspüren neuer Therapieansätze fast unmöglich.

Zudem ist bei fast allen häufigen Krankheiten das Erbgut nur ein Teil der Erklärung, es steht in einer engen, meist noch nicht einmal ansatzweise verstandenen Wechselbeziehung mit der Umwelt. In diesem Rahmen hilft das Wissen um die genetischen Risikofaktoren nur dabei, statistische Aussagen über große Patienten-Populationen zu treffen. Die konkrete Vorhersage eines individuellen Risikos bleibt aber weiterhin höchst unsicher.

Große Studien in den USA und Großbritannien

Ist die personalisierte Medizin gescheitert? Für einen Abgesang ist es sicher noch zu früh, da die Forschung noch in vollem Gang ist. Groß angelegte Studien in den USA7 und Großbritannien10 sowie regionale Bemühungen in Deutschland11 sollen die Datenbasis erweitern und neue Erkenntnisse erzeugen. Überraschungen sind nicht ausgeschlossen.

Aber absehbar ist auch, dass die personalisierte Medizin selbst im besten Fall noch viele weitere Jahre benötigen wird, bevor tiefergehende Änderungen spürbar werden15. Zudem wird vieles von dem, was in der Anfangs-Euphorie erträumt wurde, nie zu realisieren sein. Die Revolution wird sich nicht nur verspäten, sie wird auch deutlich kleiner ausfallen, als von vielen erhofft.

1 Bundesministerium für Forschung und Bildung, Personalisierte Medizin, Webseite, abgerufen April 2021 (Link)
2 F. Collins, The Language of Life: DNA and the Revolution in Personalised Medicine, Profile Books, März 2010, ISBN: 978-1846683534
alle Referenzen anzeigen 3 Marenberg et al., Genetic susceptibility to death from coronary heart disease in a study of twins, New England Journal of Medicine, April 1994 (Link)
4 F. Collins, Medical and Societal Consequences of the Human Genome Project, New England Journal of Medicine, Juli 1999 (Link)
5 Joyner und Paneth, Promises , promises , and precision medicine, Journal of Clinical Investigation, März 2019 (Link)
6 N. Comfort, Why the hype around medical genetics is a public enemy, Aeon, Dezember 2016 (Link)
7 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Ivacaftor (Kalydeco) bei Mukoviszidose (zystische Fibrose), gesundheitsinformation.de, Stand Oktober 2020 (Link)
8 Deutsches Ärzteblatt, Gentest vor Abacavir-Verordnung: HLA-B*5701 als Kontraindikation, 10. März 2008 (Link)
9 National Institures of Health, What is the Precision Medicine Initiative?, Webseite, abgerufen April 2021 (Link)
10 Genomics England, The 100,000 Genomes Project, Webseite, abgerufen Juni 2020 (Link)
11 F. Klein, Zentren für personalisierte Medizin sollen Fortschritt schnell verfügbar machen, Medical Tribune, Februar 2020 (Link)
12 Bundesärztekammer, Präzisionsmedizin: Bewertung unter medizinisch-wissenschaftlichen und ökonomischen Aspekten, Deutsches Ärzteblatt, Juni 2020 (Link)
13 Turro et al., Whole-genome sequencing of patients with rare diseases in a national health system, Nature, Juli 2020 (Link)
14 Claussnitzer et al., A brief history of human disease genetics, Nature, Januar 2020 (Link)
15 Green et al., Strategic vision for improving human health at The Forefront of Genomics, Nature, Oktober 2020 (Link)

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Kurz und knapp

  • die personalisierte Medizin soll Erkenntnisse aus dem Erbgut für eine bessere Behandlung nutzen
  • das Ziel sind genauere Diagnosen und Vorhersagen, bessere Medikation und wirksamere Therapien
  • nach fast zwanzig Jahren Forschung bleibt die Bilanz jedoch mager
  • das Wechselspiel von Erbgut und Krankheit erwies sich als sehr kompliziert
  • dennoch geht die Forschung mit hohem Druck weiter
  • die personalisierte Medizin wird auch Präzisionsmedizin oder individualisierte Medizin genannt12
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