Das ENCODE-Projekt untersucht die Aktivität des Genoms

Die Wissenschaftler des ENCODE-Projekts haben gezeigt, dass 80 Prozent des Erbguts in RNA umgeschrieben wird. Haben diese Abschnitte also eine biologische Funktion?

Die Aktivität des Genoms

Das ENCODE-Projekt sucht nach Genen, RNA-Transkriptiosfaktoren und Enhancern
Das ENCODE-Projekt wurde 2003 als Nachfolger des Human-Genom-Projekts gegründet.

Das menschliche Erbgut ist seit Jahren entschlüsselt, doch wesentliche Fragen bleiben offen: Welche Funktionen erfüllen die Milliarden von DNA-Buchstaben, die nicht Teil der Gene sind?

Weniger als zwei Prozent der DNA-Sequenz dienen als Bauplan für die Herstellung von Proteinen. Evolutionäre Prozesse deuten zudem darauf hin, dass etwa 10 bis 15 Prozent eine wichtige Aufgabe erfüllen. Doch für den überwiegenden Teil des Genoms ist keine Funktion bekannt: Viele Forscher bezeichnen diese Bereiche daher als DNA-Müll oder junk DNA.

Erste ENCODE-Daten lösen Kontroverse aus

Um die offenen Fragen zu beantworten, wurde das ENCODE-Projekt ins Leben gerufen. Es sucht in mühevoller Kleinarbeit nach den funktionellen Elementen des Genoms. Zu diesen funktionellen Elementen zählen Bereiche, die entweder direkt als Vorlage für Protein- oder RNA-Gene dienen oder aber die Aktivität dieser Gene beeinflussen. ENCODE fand fast überall Hinweise auf aktive DNA-Sequenzen und folgerte daraus2: Mindestens 80 Prozent des Genoms erfüllen eine Funktion.

Diese Hypothese stieß jedoch auf heftige Kritik. Sie entzündete sich an der Behauptung von ENCODE, dass die Aktivität einer DNA-Sequenz auch ein Beweis für ihre Funktion sei. Diese Logik überzeugte nicht jeden3: Für viele Forscher ist junk DNA nur eine unvermeidliche Folge der Evolution, deren Reinigungsmechanismen im menschlichen Erbgut nicht vollständig greifen.

Dass die Ergebnisse so umstritten sein würden, hatte zu Beginn des Projekts wohl niemand erwartet. Im Jahr 2003 rief das US-amerikanische Forschungsinstitut NHGRI eine Gruppe ausgewählter Wissenschaftler zusammen und startete ein Projekt, um die Funktion des Genoms zu erforschen. Das war der Beginn von ENCODE, der Encyclopedia Of DNA Elements (engl., Enzyklopädie der DNA-Elemente).

2012 konnte ENCODE die erste umfassende Analyse vorstellen2. Die Forscher fanden 2,9 Millionen regulatorische Elemente, die direkt oder indirekt die Aktivität von Genen steuern sollten. Zusätzlich zu den ungefähr 20 000 Protein-Genen identifizierten sie etwa 18 400 RNA-Gene. Viele weitere Bereiche wurden nach diesen Daten ebenfalls in RNA umgeschrieben, so dass etwa 80 Prozent des Genoms als aktiv eingestuft wurden. Die – vermutlich etwas voreilige – Schlussfolgerung: Von DNA-Schrott kann keine Rede mehr sein4.

Nur die Evolution zählt?

Doch schon wenige Tage nach Veröffentlichung der ENCODE-Daten setzte massive Kritik ein5. Der Kernpunkt: die Gleichsetzung einer biochemischen Aktivität mit einer biologischen Funktion.

Genau genommen hat ENCODE nur gezeigt, dass viele Bereiche des Genoms unter bestimmten Bedingungen aktiv sind: Sie binden Transkriptionsfaktoren und dienen als Vorlage für die Herstellung von RNA. ENCODE hat jedoch nicht gezeigt, dass diese biochemischen Aktivitäten einen relevanten Beitrag zum Überleben der Zellen oder des gesamten Organismus liefern.

Kritiker wenden ein, dass sich nutzlose Bereiche im Genom fast zwangsläufig anhäufen – die natürliche Selektion kann sie einfach nicht effektiv entfernen3. Es ist evolutionär weniger aufwendig, den „DNA-Müll‟ an Ort und Stelle zu belassen, als ihn in mühsamer Arbeit zu entfernen. Die scheinbare Aktivität ist daher kein Beweis für eine biologische Funktion dieser Sequenzen.

Laut den Kritikern gibt vor allem die Evolution Aufschluss darüber, ob ein Teil des Erbguts eine Funktion erfüllt oder nicht – indem sie die betreffenden Sequenzen über Jahrmillionen hinweg konserviert. Und beim Menschen hat der Vergleich mit vielen Tierarten gezeigt, dass dies höchstens für 15 Prozent seines Genoms zutrifft.

Ein Einlenken von ENCODE?

In neueren Publikation sehen die Kritiker Anzeichen, dass ENCODE stillschweigend eingelenkt hat6. Das Projekt behauptet nicht mehr, dass die Existenz von junk DNA widerlegt sei. Auch die Gleichsetzung von Aktivität und Funktion wird nicht mehr explizit formuliert. Es scheint, als wollte ENCODE die Kontroverse nicht weiter anheizen.

Im Jahr 2020 veröffentlichte ENCODE die bislang umfassendste Analyse – die sogenannte dritte Phase des Projekts7. Die Daten zu den funktionellen Elementen wurden erweitert und verfeinert, was die Arbeit vieler Forscher unterstützen wird. Weitere umstrittene Entdeckungen oder Behauptungen tauchten darin jedoch nicht auf.

Aktueller Nutzen und Pläne für die Zukunft

Jenseits aller Kontroversen haben die ENCODE-Daten bereits einen praktischen Nutzen. Mit großen Assoziationsstudien versuchen Mediziner, die genetischen Ursachen von Krankheiten aufzuklären – doch die gefundenen Risikofaktoren haben meist wenig mit Protein-Genen zu tun. Die ENCODE-Daten könnten dabei helfen, diese Risikofaktoren mit regulatorischen Elementen in Verbindung zu bringen – und so der Medizin neue Lösungsansätze aufzeigen.

Das Projekt befindet sich nun in der vierten Phase, in der weiterhin große Datenmengen produziert werden. Diese Daten werden wichtige Erkenntnisse über die Funktion des Genoms liefern – die Zeit der großen Kontroversen scheint jedoch vorbei zu sein.

1 The ENCODE Portal, ENCODE Encyclopedia Version 2: Genomic and Transcriptomic Annotations, encodeproject.org, abgerufen März 2023 (Link)
2 The ENCODE Project Consortium, An integrated encyclopedia of DNA elements in the human genome, Nature 2012 (Link)
alle Referenzen anzeigen 3 Y. Bhattacharjee, The Vigilante, Science 2014 (Link)
4 E. Pennisi, ENCODE Project Writes Eulogy For Junk DNA, Science 2012, vol. 337, pp. 1159-61 (Link)
5 L. Moran, The Function Wars Part XII: Revising history and defending ENCODE, Sandwalk Blog, Juni 2022 (Link)
6 L. Moran, ENCODE and their current definition of "function", Sandwalk Blog, August 2022 (Link)
7 Hon und Carnici, ENCODE expanded, Nature, Juli 2020 (Link)

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Kurz und knapp

  • das internationale ENCODE-Project soll funktionelle Elemente im Erbgut aufspüren
  • es fand, dass 76 % des Genoms in RNA umgeschrieben wird
  • zudem identifizierte es mehre Millionen regulatorische Elemente im Genom
  • kontrovers war allerdings die anfängliche Behauptung, dass diese Aktivität auch ein Beweis für eine biologische Funktion sei
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