Epstein-Barr-Virus – Auslöser und Treiber der Multiplen Sklerose?

Das Epstein-Barr-Virus kann Multiple Sklerose auslösen – das hat eine große Studie überzeugend gezeigt. Offen bleibt jedoch die Frage, ob das Virus auch den Verlauf der Erkrankung vorantreibt.

Bei der Multiplen Sklerose (MS) greifen Immunzellen den eigenen Körper an. Warum tun sie das? Und warum ist ausgerechnet das Nervensystem ihr Ziel? Noch sind diese Fragen nicht im Detail geklärt. Sicher ist aber, dass die Antworten viel mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) zu tun haben. Diese Erkenntnis könnte dazu beitragen, neue und dauerhaft wirksame Therapien gegen MS zu entwickeln.

Epstein-Barr-Virus als Auslöser

Das Epstein-Barr-Virus löst eine Immunreaktion aus, die in seltenen Fällen zu Multipler Sklerose führt

Vieles deutete auf das Epstein-Barr-Virus hin

EBV ist ein wenig beachtetes, aber weit verbreitetes Virus: Mehr als 9 von 10 Erwachsenen sind mit EBV infiziert. Bei Kindern verläuft eine Infektion oft ohne Symptome. In späteren Jahren kann das Pfeiffersche Drüsenfieber auftreten, das aber nur selten einen schweren Verlauf nimmt. Forscher können das Virus anhand von Antikörpern nachweisen, die nach einer Infektion im Blut auftreten. Auffällig ist, dass die Infektionsquote bei Menschen mit MS extrem hoch ist – sie liegt bei fast 100 Prozent.

Auch andere Beobachtungen deuten auf einen Zusammenhang zwischen EBV und MS hin1. So entwickeln Menschen mit MS meist eine stärkere Immunantwort gegen EBV. EBV-infizierte Zellen lassen sich zum Teil auch in ihrem Gehirn nachweisen. Und wer als junger Erwachsener an einer schweren Form des Pfeifferschen Drüsenfiebers erkrankt, hat ein deutlich erhöhtes Risiko für MS. Doch auch wenn diese Häufung von Hinweisen auffällig ist, ist sie noch kein eindeutiger Beweis. Die Rolle von EBV bei der Entwicklung von MS war daher jahrzehntelang umstritten.

Große Studie aus den USA findet Verbindung zwischen MS und EBV

Erst im Jahr 2022 konnte eine US-amerikanische Studie2 überzeugende Belege liefern – vor allem dank der Fülle an Daten. Diese stammten von mehr als 10 Millionen Mitgliedern des US-Militärs, die zwischen 1993 und 2013 im Dienst waren. Die Krankenakten des Militärs gaben Aufschluss darüber, wer an MS erkrankt war und wann die ersten Symptome auftraten. Und da US-Soldaten regelmäßig Blutproben abgeben müssen, ließ sich auch der vermutliche Zeitpunkt der EBV-Infektion leicht ermitteln.

Insgesamt identifizierte die Studie knapp tausend Soldaten, die im Beobachtungszeitraum an MS erkrankten. In 801 Fällen waren auch die zugehörigen Blutproben gut auswertbar. In 800 dieser 801 Fälle fanden sich Antikörper gegen EBV in Blutproben, die vor dem Auftreten der ersten Symptome abgenommen worden waren. Nur bei einem Erkrankten fehlten diese Antikörper: Eine EBV-Infektion war bei ihm unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen.

Die meisten Soldaten waren bei Eintritt in die Armee mit EBV infiziert. Bei 35 an MS erkrankten Personen zeigen sich jedoch anfangs keine Spuren des Virus: 34 von ihnen infizierten sich während der Militärzeit zuerst mit EBV, dann folgten mit einiger Verzögerungen die ersten MS-Symptome. Statistische Analysen zeigten: Eine Infektion mit EBV erhöhte das Risiko einer MS-Erkrankung um das 32-fache. Andere Virus-Infektionen hatten dagegen keinen Einfluss auf das Erkrankungsrisiko.

Auch diese Daten beruhen nur auf Beobachtungen und haben streng genommen keine Beweiskraft. Aber die große Zahl der Teilnehmer und die eindeutigen statistischen Ergebnisse lassen letztlich nur eine überzeugende Erklärung zu: EBV ist ein Auslöser von MS3.

Wie entsteht die Multiple Sklerose?

EBV ist jedoch nicht der einzige Faktor, der die Entwicklung von MS beeinflusst. Forscher wissen seit langem, dass auch erbliche Veranlagungen eine Rolle spielen. Sie haben Genvarianten im Immunsystem identifiziert, die das Risiko einer Erkrankung deutlich erhöhen. Auch Rauchen und ein Mangel an Vitamin D tragen zum Risiko bei. Wie die verschiedenen Risikofaktoren zusammenwirken und schließlich MS auslösen, bleibt jedoch unklar.

Ungeklärt ist auch die Frage, auf welche Weise EBV zur Entwicklung von MS beiträgt. Forscher sind jedoch auf mehrere Prozesse gestoßen, die zur Entstehung der Krankheit beitragen könnten.

Antikörper gegen EBV können auch das Nervengewebe schädigen

Ein Kennzeichen von MS ist ein auffälliges Muster von Antikörpern in der Nervenflüssigkeit, die sogenannten oligoklonalen Banden (OKB). Die Antikörper in diesen Banden richten sich häufig gegen EBV, können aber auch Proteine auf Nervenzellen erkennen. Eine jüngere Studie zeichnete den Reifungsprozess einzelner Antikörper nach4: Manche erkannten anfangs nur EBV, entwickelten aber mit der Zeit die Fähigkeit, auch an Nervenzellen zu binden. Eine Immunreaktion, die sich ursprünglich gegen EBV richtete, hat sich also letztlich gegen den eigenen Körper gewendet.

EBV könnte Entzündungen und Autoimmunreaktionen fördern

EBV infiziert bevorzugt bestimmte Zellen des Immunsystems, die B-Lymphozyten. Die Infektion verändert das Verhalten der B-Lymphozyten und fördert Entzündungsreaktionen, die auch das Nervensystem schädigen könnten. Zudem setzt EBV natürliche Kontrollmechanismen außer Kraft: Möglicherweise erhöht dies die Überlebenschancen von B-Lymphozyten, die den eigenen Körper und das Nervengewebe angreifen.

Eine Immunreaktion gegen EBV schädigt das Gehirn

Einige Studien haben EBV-infizierte Zellen im Gehirn von MS-Patienten nachgewiesen. Sie fanden auch Hinweise darauf, dass die infizierten Zellen von Immunzellen angegriffen wurden. Aktive Immunreaktionen im Gehirn gelten jedoch als riskant: Sie können das umliegende Nervengewebe in Mitleidenschaft ziehen.

EBV könnte auch den Verlauf von MS beeinflussen

Offen bleibt auch eine weitere wichtige Frage: Wirkt EBV zusätzlich als ein Treiber der MS? Verschlimmert also die Gegenwart von EBV den Verlauf der Erkrankung, nachdem sie bereits ausgebrochen ist? Diese Annahme erscheint auch deshalb plausibel, weil EBV eine persistierende Infektion verursacht: Das Virus verbleibt ein Leben lang im Körper. Und es erwacht in unregelmäßigen Abständen und löst wiederkehrende Immunreaktionen aus.

Tatsächlich fanden Forscher Hinweise auf eine andauernde Immunantwort bei MS: Viele Immunzellen scheinen dauerhaft aktiviert zu sein und die Spiegel von EBV-Antikörpern sind auffällig erhöht. Diese Aktivitäten sind zwar bei Autoimmunerkrankungen nicht ungewöhnlich, doch sie könnten auch Folge einer reaktivierten EBV-Infektion sein. Eine Immunreaktion gegen EBV könnte dazu beitragen, die Schäden am Nervengewebe zu verstärken.

Ansatzpunkt für neue Therapien

Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Therapie der MS? Theoretisch könnte eine hochwirksame Impfung die Entwicklung von MS weitgehend verhindern. Experten halten es jedoch für unwahrscheinlich, dass ein Impfstoff den Kontakt mit EBV vollständig verhindern kann5. Ein hundertprozentiger Schutz vor MS ist daher kaum möglich.

Falls die Annahme stimmt, dass EBV auch ein Treiber der Erkrankung ist, werden weitere Ansätze denkbar. Dazu gehören Wirkstoffe, die eine Reaktivierung von EBV verhindern oder zumindest die Immunantwort gegen EBV unterdrücken. Mehrere klinische Studien testen bereits den Einsatz von antiviralen Substanzen. Ein Wirkstoff ist bereits zugelassen – seine Wirksamkeit ist allerdings begrenzt.

Bisherige Therapien der MS versuchen vor allem, die Schübe zu unterdrücken. Damit lässt sich der Krankheitsverlauf aber nur um wenige Jahre verlangsamen, wie eine aktuelle Studie zeigt6. Eine dauerhaft wirksame Therapie der MS scheint nur möglich, wenn es gelingt, den kontinuierlichen Verfall des Nervengewebes zu stoppen Die Erkenntnisse über EBV bieten dafür möglicherweise einen neuen Ansatzpunkt.

1 Soldan und Lieberman, Epstein–Barr virus and multiple sclerosis, Nature Reviews Microbiology, Januar 2023 (Link)
2 Bjornevik et al., Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis, Science, Januar 2022 (Link)
alle Referenzen anzeigen 3 Robinson und Steinman, Epstein-Barr virus and multiple sclerosis, Science, Januar 2022 (Link)
4 Lanz et al., Clonally expanded B cells in multiple sclerosis bind EBV EBNA1 and GlialCAM, Nature, März 2022 (Link)
5 Science Media Center, Epstein-Barr-Virus als Ursache für Multiple Sklerose, 13.01.2022 (Link)
6 Lublin et al., How patients with multiple sclerosis acquire disability, Brain, September 2022 (Link)

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Kurz und knapp

  • das Epstein-Barr-Virus (EBV) kann Multiple Sklerose (MS) auslösen
  • eine Immunreaktion gegen EBV erzeugt Antikörper, die möglicherweise auch Nervengewebe angreifen
  • Personen mit MS haben meist eine verstärkte Immunantwort gegen EBV
  • es besteht die Möglichkeit, dass EBV auch den Verlauf von MS vorantreibt
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