Multiple Sklerose: Eingriff in das Immunsystem verändert den Verlauf

Viele Therapien der Multiplen Sklerose zielen auf das Immunsystem, um dessen Angriffe auf das eigene Nervensystem zu stoppen. Zumindest die krankheitstypischen Schübe können so gelindert werden.

Die Multiple Sklerose (MS) gilt als Autoimmunerkrankung: Immunzellen wenden sich gegen den eigenen Körper und fügen dem Gehirn schwere Schäden zu1. Viele Therapien versuchen daher, das Immunsystem zu hemmen. Zur Linderung der akuten Schübe, die vor allem die ersten Phasen der Erkrankung kennzeichnen, kommen Glukokortikoide wie das Kortison zum Einsatz. Aber auch langfristige Behandlungsstrategien – die verlaufsmodifizierenden Therapien – setzen am Immunsystem an2,3. Ihr Ziel ist es meist, das Auftreten von Schüben von vornherein zu verhindern.

Immuntherapien lindern MS

Eingriffe in das Immunsystem verändern den Verlauf der Multiplen Sklerose

Allgemeine Hemmung von Entzündungsreaktionen

Als erste wirksame Therapie kam in den 1990er Jahren der körpereigene Botenstoff IFN-ẞ zur Anwendung. IFN-ß greift auf vielfältige Weise in das Immunsystem ein: Es reduziert die Freisetzung von Entzündungsfaktoren, hemmt die Aktivierung von Immunzellen und unterdrückt deren Einwanderung in das Gehirn. Regelmäßige Injektionen von IFN-ß können die Zahl der Schübe um etwa ein Drittel verringern. Allerdings verursachen die Injektionen häufig Nebenwirkungen, die den Symptomen einer Grippe ähneln.

Als zweiter Wirkstoff wurde 2001 Glatirameracetat zugelassen. Dieses Medikament enthält eine zufällige Mischung kurzer Proteinketten, die aus vier Aminosäuren bestehen. Der Wirkmechanismus ist unklar, letztlich wird aber die Entzündungsreaktion gegen das Nervengewebe gelindert. Die Nebenwirkungen sind meist harmlos und vorübergehend, aber unangenehm: Hitzewellen, Schweißausbruch, Brustenge und Herzklopfen sind möglich.

Ebenfalls häufig angewendet wird das Medikament Dimethylfumarat. Es wirkt auf ein Signalprotein in Körperzellen, aktiviert natürliche Schutzmechanismen und dämpft Entzündungsreaktionen. Die Zahl der MS-Schübe sinkt um etwa die Hälfte. Mögliche Nebenwirkungen sind Hautrötungen, Magen-Darm-Beschwerden und Hitzewallungen. In seltenen Fällen kann Dimethylfumarat das Risiko einer schweren Virusinfektion des Gehirns erhöhen. Eine neuere Variante des Wirkstoffs mit Namen Diroximelfumarat hat eine vergleichbare Wirkung, ist aber etwas verträglicher für den Magen.

Einwanderung der Immunzellen ins Gehirn

Andere Wirkstoffe zielen darauf ab, Immunzellen den Zugang zum Gehirn zu verwehren. Der Antikörper Natalizumab blockiert dazu ein Protein auf der Oberfläche von Lymphozyten, das für die Überwindung der Blut-Hirn-Schranke notwendig ist. Dieser Antikörper kann das Auftreten der Schübe um bis zu 70 Prozent verringern. Häufige Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen, Fatigue und erhöhte Infektanfälligkeit. In seltenen Fällen können auch schwere Virusinfektionen des Gehirns auftreten.

S1P-Rezeptor-Modulatoren binden an Signalproteine von Lymphozyten und verhindern, dass die Zellen aus den Lymphdrüsen auswandern. Vier Wirkstoffe stehen zur Verfügung: Fingolimod, Ozanimod, Ponesimod und Siponimod. Etwa die Hälfte der MS-Schübe kann auf diese Weise verhindert werden. Zu den Nebenwirkungen zählen Hautbläschen, Fieber, Schmerzen und Schwellungen in den Gliedmaßen und zahlreiche weitere Störungen.

Beseitigung der B-Lymphozyten

Unter den Immunzellen scheint eine bestimmte Gruppe – die B-Lymphozyten – eine hervorstechende Rolle bei der Erkrankung zu spielen. Antikörper wie Ocrelizumab und Ofatumumab können B-Zellen weitgehend aus dem Körper entfernen und die MS-Schübe wirksam unterdrücken. Im Vergleich zu einer IFN-ß-Therapie kann die Zahl der MS-Schübe um weitere 50 Prozent gesenkt werden. Die Behandlung kann aber grippeähnliche Nebenwirkungen haben und das Infektionsrisiko erhöhen.

Während fast alle MS-Medikamente regelmäßig eingenommen werden müssen, bilden zwei Wirkstoffe eine Ausnahme: der Antikörper Alemtuzumab und der Wirkstoff Cladribin. Die Therapie erfolgt in zwei bis vier Phasen, die sich über zwei Jahre verteilen – danach ist oft eine mehrjährige Pause nötig. Beide Wirkstoffe beseitigen B-Lymphozyten, erlauben aber einen Neuaufbau der Zellpopulation. Die Zahl der MS-Schübe wird um etwa 50 Prozent reduziert. Bei Alemtuzumab besteht allerdings der Verdacht, dass die Behandlung lebensbedrohliche Nebenwirkungen haben kann. Bei Cladribin besteht das Risiko einer Gürtelrose und einer erhöhten Infektanfälligkeit.

Gezielte Beseitigung aktivierter Lymphozyten

Auch der Wirkstoff Teriflunomid beseitigt oder hemmt Lymphozyten, geht aber gezielt gegen aktivierte Zellen vor. Er hemmt das Enzym Dihydroorotat-Dehydrogenase (DHODH), das für das Überleben stark aktivierter Zellen notwendig ist. Die Wirkung ist vergleichbar mit einer IFN-ß-Therapie. Zu den Nebenwirkungen zählen erhöhte Leberwerte, Übelkeit, Durchfall und Haarausfall.

Ein interessanter Aspekt von Teriflunomid ist, dass es auch eine antivirale Aktivität besitzt. Diese Aktivität richtet sich auch gegen das Epstein-Barr-Virus (EBV), das eine zentrale Rolle bei der Entstehung von MS spielt. Teriflunomid stoppt die Vermehrung von EBV-infizierten Zellen und hemmt den lytischen Zyklus des EBV, also die Reaktivierung des Virus. Eine alternativer Wirkstoff, der weniger Nebenwirkungen zu haben scheint, befindet sich in der Entwicklung.

Schübe verhindern reicht nicht

In Deutschland sind fast 20 Medikamente zur Behandlung der MS zugelassen. Sie alle können den Verlauf lindern, haben aber einen Nachteil: Keines von ihnen wirkt gezielt gegen die Ursachen der MS, sondern hemmt das Immunsystem eher allgemein. Das könnte mit ein Grund dafür sein, dass die Wirksamkeit der Therapien begrenzt bleibt. Es könnte auch die häufigen Nebenwirkungen erklären, die viele Betroffene dazu veranlassen, das Angebot einer langfristigen Therapie abzulehnen.

Darüber hinaus zielen die Medikamente vor allem darauf ab, das Auftreten von Schüben zu verhindern. Für die Betroffenen ist dies eine große Erleichterung, kann den Fortschritt der MS-Erkrankung aber nur bedingt aufhalten. Eine aktuelle Studie konnte zeigen, dass seit langem etablierte Therapien den Eintritt der Rollstuhlpflichtigkeit nur um durchschnittlich 3,5 Jahre verzögern. Neuere Medikamente könnten diesen Zeitraum auf bis zu 7 Jahre verlängern – aufhalten können sie die Erkrankung jedoch nicht2.

Die Studie deutet auch darauf hin, dass der MS-Erkrankung ein ständig fortschreitender Prozess zugrunde liegt. Um eine andauernde Schädigung des Nervengewebes zu verhindern, müssen zukünftige Therapien vermutlich diesen Prozess unterbrechen.

1 Soldan und Lieberman, Epstein–Barr virus and multiple sclerosis, Nature Reviews Microbiology, Januar 2023 (Link)
2 Wiendl et al., Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG): Positionspapier zur verlaufsmodifizierenden Therapie der Multiplen Sklerose 2021, Der Nervenarzt, Juli 2021 (Link)
alle Referenzen anzeigen 3 Hauser und Cree, Treatment of Multiple Sclerosis: A Review, American Journal of Medicine, Juli 2020 (Link)
4 Lublin et al., How patients with multiple sclerosis acquire disability, Brain, September 2022 (Link)

Immuntherapien lindern MS

Eingriffe in das Immunsystem verändern den Verlauf der Multiplen Sklerose
Viele Therapien greifen in das Immunsystem ein, um Multiple Sklerose zu lindern.

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Kurz und knapp

  • bei der Multiplen Sklerose (MS) schädigen Immunzellen das eigene Nervengewebe
  • viele MS-Therapien greifen in das Immunsystem ein
  • Wirkstoffe wie IFN-ß unterdrücken die Immunantwort allgemein
  • andere Wirkstoffe behindern die Einwanderung von Immunzellen in das Gehirn
  • mehrere Antikörper können B-Lymphozyten beseitigen und so Krankheitsverlauf verbessern
  • bestehende Therapien können die Schübe gut unterdrücken, den Fortschritt der Erkrankung aber nur begrenzt aufhalten
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