Vidofludimus: Neuer Wirkstoff gegen Multiple Sklerose
Der Wirkstoff Vidofludimus hemmt die Vermehrung von Immunzellen. In einer Studie konnte er auch Läsionen im Gehirn unterdrücken, die bei der Multiplen Sklerose entstehen.
Therapien gegen die Multiple Sklerose (MS) unterdrücken meist das Immunsystem. Dadurch sollen aktivierte Immunzellen – vor allem die B-Lymphozyten – daran gehindert werden, das eigene Nervensystem zu schädigen. Allerdings gehen diese Therapien nicht gezielt gegen die Ursachen der MS vor1. Ihre langfristige Wirksamkeit ist meist begrenzt und das Risiko von Nebenwirkungen hoch.
Die Entwicklung einer zielgerichteten Therapie war auch deshalb schwierig, weil die Ursachen der MS lange unklar blieben. Erst Anfang 2022 konnte eine große Studie überzeugend belegen, dass die Erkrankung eng mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) verbunden ist2. Das Virus infiziert B-Lymphozyten und verursacht lebenslange Infektionen, die in unregelmäßigen Abständen wieder aufflammen. Einige Studien untersuchen daher die Frage, ob eine Unterdrückung der EBV-Infektion auch den Verlauf von MS beeinflussen kann3.
Vidofludimus hemmt ein Stoffwechselenzym
An diesem Punkt könnte auch ein neuer Wirkstoff ansetzen: Die niedermolekulare Substanz Vidofludimus blockiert nicht nur die Aktivierung von Lymphozyten, sondern auch die Reaktivierung von EBV4. Seine Wirkung erzielt Vidofludimus, indem es an das Enzym Dihydroorotat-Dehydrogenase (DHODH) bindet und damit einen wichtigen Stoffwechselweg unterbricht. Der Wirkmechanismus ähnelt dem eines anderen Medikaments, das bereits für die Behandlung von MS zugelassen ist.
Das Enzym DHODH ermöglicht die Produktion von Pyrimidinbasen, die ein wichtiger Bestandteil von DNA- und RNA-Molekülen sind. Wenn sich Lymphozyten nach ihrer Aktivierung stark vermehren, ist ihr Bedarf an Pyrimidinbasen deutlich erhöht. Eine Hemmung von DHODH erzeugt in diesen Zellen metabolischen Stress: Die Produktion von Entzündungsfaktoren sinkt und die Zellen sterben vermehrt ab. Ruhende Lymphozyten und andere Körperzellen decken ihren Pyrimidin-Bedarf meist aus Quellen, die unabhängig von DHODH sind. Vidofludimus hat auf diese Zellen nur eine begrenzte Wirkung.
Auch bei der Reaktivierung von EBV steigt der Bedarf an Pyrimidinbasen deutlich an. DHODH-Hemmer wirken hier ebenfalls: Sie verhindern die Vermehrung von EBV in infizierten Zellen und unterdrücken die Reaktivierung der Viren.
Weniger Nervenschäden bei der Multiplen Sklerose
Vidofludimus wird seit mehreren Jahren am Menschen getestet, anfangs vor allem bei entzündlichen Darmerkrankungen und rheumatoider Arthritis. Die erste Studie bei Multipler Sklerose stammt von der Firma Immunic, die 2016 in Deutschland gegründet wurde. An der Studie nahmen 210 Personen im Alter zwischen 18 und 55 Jahren teil, die an schubförmiger MS litten. Die Teilnehmer wurden nach dem Zufallsprinzip in drei Gruppen eingeteilt: Zwei Gruppen erhielten täglich entweder 30 oder 45 mg Vidofludimus, die dritte Gruppe diente als Placebo-Kontrolle.
Die Ergebnisse wurden im Juni 2022 in einem Fachjournal veröffentlicht5: Nach 24 Wochen verringerte Vidofludimus die Anzahl der aktiven Läsionen im Gehirn deutlich. In der unbehandelten Kontrollgruppe traten durchschnittlich 6,4 neue Läsionen auf, bei den behandelten Teilnehmern waren es durchschnittlich 2,4 neue Läsionen. Ein Unterschied zwischen den beiden Dosierungen (30 und 45 mg) war nicht feststellbar. Die Wirksamkeit lag damit in etwa auf dem Niveau, das auch viele andere Therapien in ersten Studien gezeigt haben.
Nebenwirkungen eher gering
Viele MS-Therapien haben erhebliche Nebenwirkungen, die manchmal auch zum Abbruch der Behandlung führen. Bei Vidofludimus blieben die Nebenwirkungen gering: Das Infektionsrisiko, eine Beeinträchtigung der Leber- und Nierenfunktion war nicht nachweisbar. Insgesamt traten im Vergleich zur Placebo-Kontrolle kaum zusätzliche Beschwerden auf. Die Therapie erwies sich als so gut verträglich, dass nur 2 von 140 Behandelten die Studie vorzeitig abbrachen (im Vergleich zu 3 von 70 Teilnehmern in der Kontrollgruppe).
Die Nebenwirkungen von Vidofludimus sind deutlich geringer als bei Teriflunomid, dem bislang einzigen zugelassenen DHODH-Hemmer. Teriflunomid kann Übelkeit, Durchfall und Haarausfall auslösen sowie die Leberwerte und das Blutbild verändern. Bis zu 40 Prozent der Behandelten brechen die Therapie im ersten Jahr ab. Im Gegensatz zu Vidofludimus scheint Teriflunomid noch weitere Stoffwechselprozesse zu stören: Dies ist vermutlich ein Grund für die deutlich höhere Zahl von Nebenwirkungen4.
Längere Studien geben endgültig Antwort
Die Ergebnisse der Vidofludimus-Studie sind vielversprechend, können aber nur erste Hinweise geben. Die Teilnehmerzahl war zu gering und der Beobachtungszeitraum zu kurz, um gesicherte Aussagen über den Einsatz bei MS machen zu können. Immunic hat weitere Studien gestartet, um die offenen Fragen zu klären6. Eine Studie umfasst 450 Teilnehmer mit progredientem Verlauf. Zwei weitere Studien haben jeweils 1050 Teilnehmer mit schubförmigem Verlauf. Die ersten Daten werden voraussichtlich Ende 2024 bzw. Ende 2025 vorliegen. Diese Studien werden zeigen, ob Vidofludimus eine wirksame und verträgliche Alternative zu bestehenden Therapien sein kann.
Teil 2/3: Multiple Sklerose: Eingriff in das Immunsystem verändert den Verlauf
Teil 3/3: Vidofludimus: Neuer Wirkstoff gegen Multiple Sklerose
2 Bjornevik et al., Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis, Science, Januar 2022 (Link)
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3 Soldan und Lieberman, Epstein–Barr virus and multiple sclerosis, Nature Reviews Microbiology, Januar 2023 (Link)4 Muehler et al., Vidofludimus calcium, a next generation DHODH inhibitor for the Treatment of relapsing-remitting multiple sclerosis, Multiple Sclerosis and Related Disorders, Mai 2020 (Link)
5 Fox et al., A double-blind, randomized, placebo-controlled phase 2 trial evaluating the selective dihydroorotate dehydrogenase inhibitor vidofludimus calcium in relapsing-remitting multiple sclerosis, Annals of Clinical and Translational Neurology, Juni 2022 (Link)
6 M. Mäurer, Phase-2-Studie mit Vidofludimus Calcium (IMU838): eine Einordnung, MS-Docblog, März 2023 (Link)
Multiple Sklerose
Kurz und knapp
- Vidofludimus hemmt das Stoffwechselenzym DHODH
- DHODH-Hemmer unterdrücken die Aktivierung von Lymphozyten
- DHODH-Hemmer unterdrücken auch die Reaktivierung des Epstein-Barr-Virus
- in einer Studie konnte Vidofludimus das Auftreten von Gehirnläsionen bei Multipler Sklerose deutlich verringern
- im Vergleich zu Placebo löst Vidofludimus kaum zusätzliche Nebenwirkungen aus