Epigenetik: Gene haben ein Gedächtnis
Das Erbgut bietet Zellen die Wahl: Manche Gene werden benötigt, andere nicht. Epigenetische Marker sorgen dafür, dass diese Auswahl nicht in Vergessenheit gerät.
Epigenetik
Das menschliche Erbgut enthält etwa 20 000 Gene. Eine einzelne Körperzelle benötigt jedoch nur einen Teil davon – die übrigen Gene schaltet sie ab. Dabei hinterlässt die Zelle dauerhafte Markierungen, die die gewünschte Aktivität der Gene kennzeichnen. Diese Marker bestehen meist aus kleinen Molekülen, die an die DNA oder begleitende Proteine angehängt werden. Das Feld der Epigenetik erforscht, wie diese Marker reguliert werden und welche Folgen sie haben.
Inhalte
- Stabile DNA...
- Epigenom...
- DNA-Methylierung...
- Histon-Modifikationen...
- Umwelt...
- Vererbung
- Krankheiten...
- Krebs...
Die DNA ist jahrtausendelang stabil ...
Chemisch betrachtet ist die DNA ist ein sehr stabiles Molekül: Sie kann Jahrtausende überdauern und die gespeicherte Erbinformation zuverlässig bewahren. So haben Fossilien das gesamte Erbgut der Neandertaler und Denisova-Menschen überliefert, obwohl diese vor langer Zeit ausgestorben sind.
Die DNA lässt sich auch problemlos vervielfältigen. Alle Lebewesen und Zellen verfügen über Enzyme, die getreue Kopien des Erbguts anfertigen können. Die Abfolge der DNA-Buchstaben bleibt dabei fast unverändert erhalten – die Erbinformation gelangt so verlässlich von einer Generation zur nächsten.
Die Stabilität und Zuverlässigkeit der DNA ist eine wichtige Voraussetzung für die Evolution. Neue Arten können nur entstehen, wenn ihr Erbgut auf einem sicheren Fundament ruht.
… und dennoch anpassungsfähig
Im täglichen Kampf ums Überleben kann die Stabilität der DNA jedoch auch zum Problem werden. Lebewesen und einzelne Zellen müssen sich ständig an ihre Umwelt anpassen und dabei die Erbinformation flexibel einsetzen.
Epigenetische Marker ermöglichen diese Flexibilität: Kleine Moleküle können die DNA verändern und die Erbinformation an die aktuellen Bedürfnisse anpassen. Die DNA-Buchstaben selbst bleiben dabei unberührt, doch die Zelle kann nur noch auf Teile der Erbinformation zugreifen. Dadurch verändert sich die Aktivität der Gene.
Diese Marker schaffen eine neue Informationsebene auf dem Genom – das Epigenom (epi: griech. auf).
Das Epigenom bestimmt die Identität einer Zelle
Die Erforschung des Epigenoms konnte viele offene Fragen beantworten. Eine der wichtigsten: Wie ist es möglich, dass unterschiedliche Zellarten aus der identischen Erbinformationen hervorgehen? Dieser Vorgang ist bei jeder Geburt zu beobachten: Aus einer menschlichen Stammzelle – der befruchteten Eizelle – entwickelt sich ein Säugling, der hunderte unterschiedliche Körpergewebe aufweist.
Die schrittweise Spezialisierung der Körperzellen wird über das Epigenom verankert. Es ist eine Art Gedächtnis für Gene und zeigt an, welche verwendet und welche abgeschaltet werden. Eine Muskelzelle verwendet daher nur die Gene, die für ihre Arbeit wichtig sind. Eine Hautzelle wiederum aktiviert einen anderen Satz von Genen. Und das Gleiche gilt für die Zellen von Herz, Niere, Gehirn und allenanderen Organen. So sind die 20 000 menschlichen Gene fast ständig im Gebrauch –jedoch niemals alle gleichzeitig in einer einzelnen Zelle.
Doch wie entsteht das Epigenom? Auch dies ist ein stetiger Prozess, der parallel zur Entwicklung der Körpergewebe stattfindet. Signale aus der Umgebung sagen den Zellen, welche Gene sie anschalten sollen. Gleichzeitig werden Mechanismen gestartet, die quasi ein Protokoll dieser Aktivitäten im Erbgut ablegen. So wird das Entwicklungsprogramm gestartet und gleichzeitig gefestigt1. Dabei entsteht ein Epigenom, das für das jeweilige Gewebe typisch ist und die Identität der Zelle festlegt.
Bei manchen Tierarten unterscheiden sich nicht nur einzelne Zellen, sondern ganze Individuen deutlich voneinander. Eine Bienenlarve beispielsweise hat zwei mögliche Lebenswege: Entweder sie wird eine stattliche Königin, die ständig neue Nachkommen erzeugt. Oder sie wird eine kleine, unfruchtbare Arbeiterin, die Futter herbeischafft und für die Brut sorgt. Auch hierbei spielt das Epigenom eine wichtige Rolle – teilweise beeinflusst durch ein besonderes Futter, das Gelée Royal.
Wie wird die Information im Epigenom gespeichert?
Was ist das Epigenom genau? Wie gelingt es, epigenetische Informationen im Erbgut zu speichern? Die Zelle verfügt dazu über mehrere Möglichkeiten, vor allem die DNA-Methylierung und die Histon-Modifikationen. Manche Forscher zählen auch die Aktivität2 und Modifikation3 bestimmter RNA-Moleküle dazu, diese Auffassung ist aber noch nicht allgemein akzeptiert1.
In der Regel wirkt keiner dieser epigenetischen Marker allein: Erst das Zusammenwirken vieler Signale bestimmt, welche Gene aktiviert werden und welche nicht.
DNA-Methylierungen
Bei der Methylierung wird ein kleines Molekül – die Methylgruppe – direkt an die DNA angehängt. Die Verknüpfung erfolgt an der DNA-Base Cytosin. Dabei muss sich das Cytosin in direkter Nachbarschaft zu einem Guanin befinden. Die Abfolge der DNA-Buchstaben bleibt bei der Methylierung unverändert.
Die DNA-Methylierung ist chemisch sehr stabil. Ein spezialisiertes Enzym verknüpft die Methylgruppe mit dem Cytosin, ein anderes Enzym kann sie wieder entfernen.
In der Regel führt eine DNA-Methylierung dazu, dass ein Gen abgeschaltet wird. Dies gilt vor allem, wenn die Methylierung in Bereichen erfolgt, die direkt vor dem Gen liegen.
Histon-Modifikationen
Histone sind Proteine, die für den Aufbau von Chromatin und Chromosomen notwendig sind. Sie wickeln den DNA-Strang wie kleine Spindeln auf. Je dichter diese Spindeln gepackt sind, desto schwerer lassen sich die aufgewickelten Gene aktivieren.
Chemische Veränderungen oder Modifikationen der Histone beeinflussen die Packungsdichte des Chromatins. Dieses wiederum beeinflusst die Aktivität der Gene.
Histone können auf mehrere Arten modifiziert werden. Zu den wichtigsten gehören4:
- Acetylierung
- Methylierung
- Phosphorylierung
- Ubiquitinierung
Wechselspiel von Genom und Umwelt
Körperzellen müssen ihre Eigenschaften und ihr Verhalten an ihre Umwelt anpassen. „Umwelt‟ bedeutet für eine Zelle aber in erster Linie das umliegende Körpergewebe: In diesem Verbund müssen die Zellen eng zusammenarbeiten, um die Funktion eines Organs zu gewährleisten. Das bedeutet auch, dass die Aktivität der Gene sorgsam aufeinander abgestimmt werden muss.
Da jedes Organ eine andere Funktion erfüllt, greift es auch auf einen jeweils unterschiedlichen Satz von Genen zurück. Das Epigenom gibt dabei quasi den genetischen Rahmen vor, in dem sich die einzelnen Gewebezellen bewegen1. Es ist ein wesentliches Element bei der Selbstorganisation der Organe. Und sichert so das Überleben des gesamten Organismus.
So wie sich Zellen in das Gewebe eingliedern, muss sich auch der gesamte Organismus an seinen Lebensraum anpassen. Es gibt Hinweise, dass dabei auch epigenetische Marker eine Rolle spielen könnten. So scheinen beispielsweise Signale von außerhalb des Körpers den Stoffwechsel zu beeinflussen. Wie groß dieser Einfluss ist, bleibt allerdings unklar.
Werden epigenetische Markierungen vererbt?
Epigenetische Markierungen bleiben erhalten, wenn Körperzellen sich teilen. Dabei bewahren die Tochterzellen ihre typischen Eigenschaften: Aus einer Leberzelle entstehen neue Leberzellen, aus einer Hautzelle neue Hautzellen. DNA-Methylierungen und Histon-Modifikationen werden also bei der Vermehrung der Zellen vererbt.
Anders verhält es sich jedoch, wenn Keimzellen – also Spermien und Eizellen – bei der Befruchtung verschmelzen. Bei Säugetieren werden dadurch fast alle DNA-Methylierungen und Histon-Modifikationen aus dem Erbgut entfernt. Eine weitere Löschung der epigenetischen Markierungen findet in den Urkeimzellen statt, die sich in den ersten Lebenswochen von Säugetier-Embryonen bilden.
Bei Menschen beginnt eine befruchtete Eizelle fängt damit quasi von neuem, ihr epigenetisches „Gedächtnis‟ ist so gut wie gelöscht. Es gibt jedoch Hinweise, dass in seltenen Fällen dennoch epigenetische Markierungen von einer Generation auf die nächste übertragen werden können. Ob diese Übertragung spürbare Folgen hat, ist bislang noch unklar.
Bei Pflanzen und Würmern hingegen erfolgt die Befruchtung auf anderen Wegen: Dabei können auch epigenetische Markierungen erhalten bleiben. So finden sich bei diesen Lebewesen finden sich zahlreiche Beispiele, bei denen erworbene Eigenschaften an die nächste Generation weitergegeben werden.
Krankheiten mit Umwelteinfluss
Viele Krankheiten – vermutlich sogar die meisten – entwickeln sich in einem Wechselspiel von Erbgut und Lebensumständen. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass auch das Epigenom an diesem Prozess beteiligt ist. Dies gilt vor allem für Störungen des Stoffwechsel wie Typ-2-Diabetes, Lebererkrankungen und Fettleibigkeit.
Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben Forscher in großen Studien versucht, den Einfluss des Epigenoms zu bestimmen5. Sie fanden 18 Stellen im Erbgut, an denen die DNA-Methylierung verändert war. Bei vielen tausend anderen Bereichen des Erbguts liessen sich jedoch keine Veränderungen des Erbguts nachweisen. Diese Studien deuten darauf hin, dass der Einfluss des Epigenoms auf Herz-Kreislauf-Krankheiten wohl eher gering ist.
Behandlung von Krebs
Ein größeren Einfluss scheint das Epigenom bei Krebserkrankungen zu haben. Bei einigen Krebsarten werden beispielsweise verstärkt Enzyme aktiviert, die epigenetische Marker verändern. Wird beispielsweise das natürliche Gleichgewicht der Histon-Acetylierungen gestört, können wichtige Bestandteile der natürlichen Krebsabwehr ausgeschaltet werden6.
In den USA sind mehrere Medikamente zugelassen, die in die Regulation der Histon-Acetylierung eingreifen. Sie haben sich in manchen Fällen als wirksam erwiesen, verursachen aber auch starke Nebenwirkungen. Deswegen werden sie bislang eher selten eingesetzt.
Teil 2/4: Umwelt und Epigenetik – was wird vererbt?
Teil 3/4: Epigenetik: Beeinflusst die Umwelt das Genom?
Teil 4/4: Lamarck hatte (ein wenig) recht
2 Gaggi et al., LncRNAs Ride the Storm of Epigenetic Marks, Genes, März 2025 (Link)
alle Referenzen anzeigen
3 Bove et al., Epitranscriptomics and epigenetics: two sides of the same coin?, Clinical Epigenetics, September 2024 (Link)4 Nl et al., Epigenetic Mechanisms in the Transfer of Metabolic Disorders: A Comprehensive Review, Cureus, März 2025 (Link)
5 P. Marques-Vidal, The epigenome, the missing link between diet and cardiovascular disease?, European Journal of Preventive Cardiology, Januar 2024 (Link)
6 H. Marei, Epigenetic regulators in cancer therapy and progression, npj Precision Oncology, Juni 2025 (Link)
Epigenetik
Aufbau des Erbguts
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Kurz und knapp
- die Mechanismen der Epigenetik steuern die Aktivität von Genen, ohne die DNA-Buchstaben zu verändern
- häufige epigenetische Marker sind DNA-Methylierungen und Histon-Modifikationen
- epigenetische Marker bleiben bei der Zellteilung erhalten
- sie legen die Identität und Funktion von Körperzellen fest
- bei Säugetieren und Menschen ist unklar, ob epigenetische Marker von einer Generation zur nächsten vererbt werden