Epigenetik: Lamarck hatte (teilweise) recht

Die Giraffe bekam einen langen Hals, weil sie an das Laub der Bäume wollte – mit diesem Zerrbild wurde Jean-Baptiste de Lamarck lange verspottet. Neue Erkenntnisse werfen jedoch ein milderes Licht auf seine Evolutionstheorie.

Die Lehrmeinung stand lange fest: Nur spontane Gen-Mutationen können das Erbgut verändern, nicht die direkte Interaktion mit der Umwelt. Doch die Wissenschaft musste sich teilweise korrigieren: Ein Wechselspiel zwischen Genom und Umwelt scheint nun tatsächlich möglich. Dem Ansehen von Lamarck hat das gut getan1.

Vererbung nach Lamarck

Die Abfolge der Buchstaben im Erbgut (die DNA-Sequenz) speichert alle wesentlichen Informationen – das bleibt weiterhin korrekt. Aber jetzt wissen Forscher, dass die Erbinformation veränderbar ist: Markierungen auf den einzelnen Buchstaben (den DNA-Basen) können Teile des Genoms an- oder abschalten. Die Aktivität einzelner Gene wird so an die Umwelt angepasst.

Wirkt die Umwelt auf Gene

Diese neue Informationsebene auf dem Genom wird als Epigenom (epi: griech. auf, darüber) bezeichnet. Die Forschung dazu nennt sich Epigenetik. Und deren Erkenntnisse deuten an, dass ein Wechselspiel von Genom und Umwelt möglich ist.

Umwelt-Einflüsse waren auch ein zentraler Punkt in Lamarcks Theorie (vom Genom wusste er noch nichts). Der Gebrauch oder Nicht-Gebrauch von Organen sollte deren Funktion verändern, und diese Änderungen würden an die Nachkommen vererbt. So entwickelte sich die Giraffe und ihr langer Hals.

Die Epigenetik rehabilitiert Lamarck in einem Punkt: Die Umwelt kann eine direkte Rolle bei der Ausprägung und Verwendung der Erbinformation spielen. Doch zwei weitere, sehr entscheidende Punkte seiner Theorie bleiben fragwürdig.

Fortschritt der Evolution?

Erstens: gemäß Lamarck erfolgen Veränderungen zielgerichtet. Körperorgane entwickeln sich Schritt für Schritt auf eine höheres Niveau, und jeder Schritt bedeutet eine bessere Anpassung an die Umwelt.

Die Epigenetik sieht etwas anderes. Das Epigenom steuert vor allem die Zusammenarbeit der Zellen innerhalb eines Organs, nicht die evolutionäre Entwicklung eines Organs und den Erwerb einer neuen Funktion. Nur wenige epigenetische Markierungen werden an die nächste Generation vererbt – und die stellen keinen sichtbaren neuen Entwicklungsschritt dar2.

Zweitens: Lamarcks Veränderungen werden an alle folgenden Generationen weitergegeben. Epigenetische Markierungen hingegen werden zwar bei Pflanzen stabil vererbt, aber wohl nicht bei Säugetieren. Spätestens in der dritten Generation ist das Epigenom wieder in seinem ursprünglichen Zustand3 – die Veränderungen sind kurzlebig und tragen nicht zum evolutionären Fortschritt bei.

Die Urzeugung

Dazu kommt, dass die Vererbung erworbener Eigenschaften nur ein Teilaspekt von Lamarcks Evolutionstheorie war. Der Kern seiner Lehre lautete: Leben entsteht in einem spontanen Prozess der Urzeugung und entwickelt sich kontinuierlich zu einem höheren Zustand weiter.

Diese Urzeugung sollte mehrfach unabhängig voneinander erfolgen und die unterschiedlichen Lebensformen hervorbringen: Pflanzen, Tiere und Menschen hätten somit keinen gemeinsamen Vorfahren. Spätestens an diesem Punkt kollidiert Lamarcks Theorie mit der modernen Naturwissenschaft.

Lamarcks bleibende Leistungen

Die neuen Erkenntnisse der Epigenetik sind daher keine Bestätigung von Lamarcks Theorien. Aber sie bieten Anlass, Lamarcks Ruf zu rehabilitieren: Er war ein sorgfältiger Wissenschaftler mit bleibenden Leistungen, wenn auch eher bei der Erforschung der Wirbellosen – übrigens ein Begriff, der von ihm geprägt wurde.

Und so ist es auch eine Fadenwurm, der das erste eindeutige Beispiel für eine Lamarck'sche Vererbung liefert: Der Wurm bildet eine Resistenz gegen Viren aus – und vererbt sie, unabhängig vom Genom, an viele nachfolgende Generationen weiter4. Zumindest bei den Wirbellosen, seinem eigentlichen Fachgebiet, lag Lamarck mit seiner Evolutionstheorie nicht völlig falsch5.

1 Handel et al., Is Lamarckian evolution relevant to medicine?, BMC Medical Genetics 2010, vol. 11, pp. 73-5 (link)
2 Cavalli und Heard, Advances in epigenetics link genetics to the environment and disease, Nature, Juli 2019 (Link)
3 Finer et al., The Hunt for the Epiallele, Environmental and Molecular Mutagenesis 2011, vol. 52, pp. 1-11 (link)
4 Rechavi et al., Transgenerational Inheritance of an Acquired Small RNA-Based Antiviral Response in C. elegans, Cell 2011, vol. 147, pp. 1248-56 (link)
5 Charlesworth et al., Next-Gen Learning: The C. elegans Approach, Cell, Juni 2019 (link)

Vererbung nach Lamarck

Lamark'sche Vererbung: Ein Fadenwurm vererbt eine Resistenz gegen Viren unabhängig vom Genom.

Aufbau des Erbguts

  • Chromosomen und Chromatin mehr...
  • Das Gen - ein überholtes Konzept? mehr...
  • Nicht-codierende DNA mehr...
  • Das Genom als RNA-Maschine mehr...
  • Das ENCODE-Projekt mehr...
  • Der genetische Code mehr...
  • Evolution des genetischen Codes mehr...
  • Single Nucleotide Polymorphism (SNP) mehr...

Wissenswertes

Epigenetik

Genomforschung

⇒ Aufbau des Erbguts

  • Chromosomen und Chromatin mehr...
  • Das Gen - ein überholtes Konzept? mehr...
  • Nicht-codierende DNA mehr...
  • Das Genom als RNA-Maschine mehr...
  • Das ENCODE-Projekt mehr...
  • Der genetische Code mehr...
  • Evolution des genetischen Codes mehr...
  • Single Nucleotide Polymorphism (SNP) mehr...

⇒ Wissenswertes

⇒ Epigenetik

Kurz und knapp

  • Lamarck nahm an, dass die Umwelt die Entwicklung von Körperorganen bedingt
  • neue Erkenntnisse der Epigenetik zeigen, dass die Umwelt tatsächlich das Genom beeinflussen kann
  • doch epigenetische Änderungen sind nicht zielgerichtet und – zumindest bei Säugetieren – nicht dauerhaft vererbbar
  • die Epigenetik ist daher keine Bestätigung von Lamarcks Auffassung der Evolution
OK

Diese Webseite verwendet Cookies, die für das Bereitstellen der Seiten und ihrer Funktionen technisch notwendig sind.    Info