Epigenetik: Lamarck hatte (ein wenig) recht
Die Giraffe bekam einen langen Hals, weil sie ihre Nahrung in hohen Bäumen suchte – mit diesem Zerrbild seiner Ideen wurde der Naturforscher Lamarck lange verspottet. Neue Erkenntnisse lassen seine Evolutionstheorie in einem milderen Licht erscheinen.
Vererbung nach Lamarck
Vor mehr als 200 Jahren stellte Jean-Baptiste de Lamarck die erste durchdachte Theorie der Evolution auf. Doch sein Lohn war nur Spott: Niemand wollte glauben, dass sich Lebewesen gezielt an ihre Umwelt anpassen. Und dass sie diese Anpassungen an ihre Nachkommen weitergeben.
Doch seit einigen Jahrzehnten ist klar, dass die DNA – der Träger der Erbinformation – mit kleinen Molekülen verändert werden kann. Dabei entsteht eine neue Informationsebene – das Epigenom. Dies kann direkt auf die Umwelt reagieren und diese Erfahrungen dauerhaft speichern1. Damit wurden Lamarcks Ideen aktueller denn je.
Um es vorweg zu nehmen: Die Epigenetik – also die Erforschung des Epigenoms – sagt nicht, dass Lamarck mit seiner Evolutionstheorie Recht hatte. Aber sie erlaubt einen neuen, unvoreingenommenen Blick auf den französischen Naturforscher. Und auf seine großen und bleibenden Leistungen.
Inhalte
- Systematik und Theorie...
- Genetik und Epigenetik...
- Bienen und Fadenwürmer...
- Evolution oder Anpassung...
- Umwelt oder Körper?
- Stabile Weitergabe?
- Urzeugung...
- Bleibende Leistungen...
Vom Systematiker zum Theoretiker
Lamarck war Ende des 18. Jahrhunderts ein angesehener Gelehrter, der sich mit der Systematik von Pflanzen und Wirbellosen beschäftigte. Es war die Zeit der Französischen Revolution, in der sich weltanschauliche Fesseln lösten und Ideen frei fließen konnten. Auch Lamarck begann, eigene Theorien über die Erscheinungsformen der Natur zu entwickeln. Im Jahr 1809 – dem Geburtsjahr Darwins – veröffentlichte er das Buch „Philosophie zoologique“: Es enthielt die erste umfassende Theorie der Evolution.
Lamarcks Evolutionstheorie beruht auf mehreren Grundannahmen. In vereinfachter Form lauten sie etwa wie folgt:
- Die Urzeugung ist ein andauernder Prozess, bei dem spontan sehr einfache Lebewesen entstehen.
- Diese einfachen Lebewesen haben einen inneren Drang zur Weiterentwicklung. Sie verändern sich unermüdlich und werden so im Laufe vieler Generationen zu einer höheren Art.
- Jedes Lebewesen passt sich ständig an seine Umwelt an. Je nach Gebrauch oder Nichtgebrauch entwickeln sich die seine Körperorgane weiter oder verkümmern.
- Die erworbenen Eigenschaften werden vererbt. Weiter entwickelte Organe werden direkt an die Nachkommen weitergegeben und bilden die Grundlage für den Fortschritt der Evolution.
Heute ist klar, dass viele dieser Grundannahmen reine Spekulation sind – wissenschaftliche Belege dafür sind nie aufgetaucht. Heute erregt nur noch seine Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften ein gewisses Interesse. Eine Idee, die damals weit verbreitet war und ursprünglich gar nicht von Lamarck stammte. Und dennoch das beschreibt, was wir heute unter Lamarckismus verstehen.
Von der Genetik zur Epigenetik
50 Jahre nach Lamarck präsentierte Charles Darwin eine Evolutionstheorie, die bis heute in wichtigen Teilen akzeptiert ist. Weitere 100 Jahre später wurde die DNA als Träger der Erbinformation identifiziert. Seither sind Genetik und Evolution eng miteinander verbunden – Lamarcks Theorien spielen dabei keine Rolle mehr.
Bei Darwin kommt der Umwelt eher die Rolle eines Schiedsrichters zu: Sie entscheidet, welche Veränderungen sich in der Natur durchsetzen. Sie kann aber nicht direkt und gezielt auf das Erbgut einwirken.
Diese Vorstellung lässt sich gut mit der Genetik vereinbaren: Hier speichert die Buchstabenfolge im Erbgut (die DNA-Sequenz) alle wesentlichen Informationen. Veränderungen der DNA-Sequenz erfolgen mehr oder weniger zufällig. Sie prägen die Entwicklung eines heranwachsenden Organismus, der sich dann der natürlichen Auslese stellen muss.
Die Erkenntnisse der Epigenetik haben dieses Bild jedoch deutlich erweitert: Die Erbinformation kann beeinflusst werden, ohne dabei die Buchstabenfolge der DNA-Sequenz zu verändern. Dabei spielen Signalprozesse und Moleküle eine wichtige Rolle:
- DNA-Methylierungen: Ein kleines Molekül (ein Methylrest) wird an den DNA-Strang angehängt.
- Histon-Modifikationen: Histone sind Proteine, die den DNA-Strang wie kleine Spindeln aufwickeln. Auch sie können durch kleine Moleküle verändert (modifiziert) werden.
- RNA-Moleküle binden gezielt an bestimmte Bereiche der DNA.
Diese epigenetischen Marker können Teile der Erbinformation an- oder abschalten. Dadurch wird die Aktivität einzelner Gene gesteuert und an die Bedürfnisse des Organismus angepasst. Die Auslöser für epigenetische Veränderungen können auch von außen kommen: Ein Wechselspiel zwischen Erbgut und Umwelt wird damit möglich.
Bienen und Fadenwürmer als Beispiel
Was bedeutet dies für Lamarcks Theorie? Anfang des 19. Jahrhundert wussten die Menschen noch nichts vom Erbgut: Wie die Anpassung an die Umwelt zustande kommt, war Gegenstand von Spekulationen. Lamarck glaubte an einen inneren Drang, der der die Organe des Körpers zur Entwicklung antrieb. Diese veränderten Organe gingen auf die Nachkommen über, so dass sich im Laufe von Generationen neue Körpermerkmale und Arten bildeten. Die Umwelt war also eine unmittelbare Triebfeder der Evolution.
Auf den ersten Blick scheint die Epigenetik Lamarck in einem wichtigen Punkt zu bestätigen: Die Umwelt kann beeinflussen, wie genetische Informationen genutzt werden. So entscheidet bei Bienen die Nahrung darüber, ob sich die Larve zur Arbeiterin oder zur Königin entwickelt. Und bei Fadenwürmern wird eine Abwehrreaktion gegen Viren über viele Generationen weitergegeben.
Warum die Epigenetik Lamarck nicht bestätigt
Doch der Schein trügt: Die Erkenntnisse der Epigenetik bestätigen Lamarck keineswegs. In zentralen Punkten bleibt der Lamarckismus eine Theorie, die von der Zeit überholt wurde.
Evolution oder Feinabstimmung?
Gemäß Lamarck verändern sich Lebewesen entlang einer vorgegebenen Richtung. Häufig genutzte Körperorgane werden komplexer und passen sich besser an die Umwelt an. Wenig genutzte Körperorgane verkümmern und verschwinden schließlich. Das Lebewesen nimmt neue Eigenschaften an und erreicht eine höhere Entwicklungsstufe.
Im Gegensatz dazu sind die Mechanismen der Epigenetik jederzeit umkehrbar. Einzelne Gene können für eine gewisse Zeit abgeschaltet, aber danach auch wieder aktiviert werden. Die Epigenetik beeinflusst, welcher Teil der Erbinformation gerade genutzt wird – die Information selbst bleibt unverändert.
Umwelt oder Körper?
Lamarcks Evolutionstheorie beschäftigte sich mit dem gesamten Lebewesen. Sie beschrieb dessen scheinbaren Drang, sich an die Umwelt anzupassen.
Die epigenetischen Mechanismen greifen hingegen auf der Ebene einer einzelnen Körperzelle. Sie regeln den Zugriff auf die Erbinformationen und stellen sicher, dass die Zelle ihre Aufgaben zuverlässig erfüllt. Das Hauptziel besteht darin, die Zellen des Körpers zu organisieren und eine dauerhafte Funktion der Organe zu gewährleisten2.
Dank der Epigenetik haben Zellen eine feste Identität. So bleibt beispielsweise eine Muskelzelle eine Muskelzelle und eine Hautzelle eine Hautzelle.
Über die Identität einer Zelle entscheiden fast immer Signale aus dem Körperinneren. Diese Signale kommen von den umliegenden Geweben oder werden in Form von Hormonen und Stoffwechselprodukten über das Blut oder andere Körperflüssigkeiten transportiert. Das Wechselspiel von Gesamtorganismus und Umwelt spielt dabei in der Regel nur eine geringe Rolle.
Stabile Weitergabe an folgende Generationen?
Gemäß Lamarck werden körperliche Veränderungen unmittelbar an die folgenden Generationen weitergegeben. Diese vererbten Merkmale entwickeln sich ständig weiter und ermöglichen so die Entstehung neuer Arten.
Bei epigenetischen Markern steht außer Frage, dass sie bei der Zellteilung meist erhalten bleiben. Diese Informationen gehen also von einer Körperzelle zur nächsten über. Ob Lebewesen diese Marker jedoch auch an ihre Nachkommen weitergeben, ist in vielen Fällen noch unklar. Bei Pflanzen, Fadenwürmern und Insekten gibt es dafür einige Hinweise: Epigenetische Informationen, die Anpassungen an die Umwelt ermöglichen, können auf viele weitere Generationen übertragen werden und dort ihre Wirkung entfalten3.
Bei Säugetieren und Menschen ist die Situation komplizierter. Das Erbgut in ihren Keimzellen wird mehrfach neu organisiert: Dabei gehen fast alle epigenetischen Marker verloren. Jeder Embryo fängt damit im Grunde wieder bei Null an. Zwar gibt es vermutlich seltene Ausnahmen, bei denen epigenetische Informationen erhalten bleiben. Ob diese jedoch eine biologische Bedeutung haben, ist noch unklar.
Selbst wenn epigenetische Informationen an die Nachkommen vererbt werden, ist unklar, ob dies den Verlauf der Evolution beeinflusst. Einige Forschende vermuten zwar, dass epigenetische Änderungen langfristig auch die Abfolge der Buchstaben auf der DNA verändern können4. Doch abschließend geklärt ist diese Frage noch nicht.
Die Urzeugung
Was oft untergeht: Die Vererbung erworbener Eigenschaften war nur ein Aspekt von Lamarcks Evolutionstheorie. Er glaubte auch, dass Leben durch Urzeugung entsteht – ein spontaner und ständig ablaufender Prozess. Dabei entsteht immer wieder ein einfacher Organismus, dessen Nachkommen sich kontinuierlich weiterentwickeln und eine höhere Stufe erreichen.
Lamarck hat diesen Ansatz konsequent zu Ende gedacht und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: Alle Arten von Lebewesen – egal ob Pflanzen, Tiere oder Menschen – wären demnach unabhängig voneinander entstanden. Sie hätten somit auch keinen gemeinsamen Vorfahren. Unterschiedliche Arten von Lebewesen existieren, weil ihre frühesten Vorfahren zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden sind. Ihre Nachkommen hatten daher auch unterschiedlich viel Zeit gehabt, sich weiterzuentwickeln.
Spätestens an diesem Punkt kollidiert Lamarcks Theorie mit der modernen Naturwissenschaft.
Lamarcks bleibende Leistungen
Es gibt viele Gründe, warum die Erkenntnisse der Epigenetik keine Bestätigung von Lamarcks Theorien sind. Sie bieten jedoch Anlass, Lamarcks Ruf zu rehabilitieren. Er war der Erste, der sich an eine umfassende Theorie des Lebens wagte.
In anderen Bereichen glänzte Lamarck als sorgfältiger Wissenschaftler, der sich intensiv mit den verschiedenen Formen des Lebens beschäftigte. Auf vielen Gebieten hat er Grundlegendes geleistet. Vor allem bei der Erforschung der Wirbellosen – ein Begriff, den er selbst prägte.
Teil 2/4: Umwelt und Epigenetik – was wird vererbt?
Teil 3/4: Epigenetik: Beeinflusst die Umwelt das Genom?
Teil 4/4: Lamarck hatte (ein wenig) recht
2 B. Horsthemke, A critical appraisal of clinical epigenetics, Clinical Epigenetics, Juli 2022 (Link)
3 Wang et al., Lamarck rises from his grave: parental environment-induced epigenetic inheritance in model organisms and humans, Biological Reviews of the Cambridge Philosophical Society, November 2017 (Link)
4 Korolenko und Skinner, Generational stability of epigenetic transgenerational inheritance facilitates adaptation and evolution, Epigenetics, Dezember 2024 (Link)
Vererbung nach Lamarck
Aufbau des Erbguts
Epigenetik
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Kurz und knapp
- gemäß Lamarck entwickeln Lebewesen Körperorgane, um sich besser an ihre Umwelt anzupassen
- diese körperlichen Veränderungen werden unmittelbar an die Nachkommen weitergegeben
- neue Erkenntnisse der Epigenetik zeigen, dass die Umwelt das Genom tatsächlich beeinflussen kann
- epigenetische Marker steuern jedoch vor allem das Zusammenspiel der einzelnen Zellen eines Körpers
- epigenetische Änderungen sind nicht zielgerichtet und – zumindest bei Säugetieren – nicht dauerhaft vererbbar
- die Epigenetik ist daher keine Bestätigung von Lamarcks Evolutionstheorie