Teil II: Der genetische Code – Evolution und Manipulation
Eine Kombination aus Selektion und Zufall hat vermutlich den genetischen Code geprägt. Dennoch ist er nicht unabänderlich – Wissenschaftler können ihn manipulieren.
Der genetische Code ist wie ein Wörterbuch, welches die Übersetzung der Erbinformation in Proteine regelt (mehr dazu in Teil I). Der Code wurde bereits in den 1960er Jahren entschlüsselt, seine Entstehung liegt aber noch im Dunkeln. Sein Ursprung führt zu einer hypothetischen Lebensform – LUCA, dem Urahn allen Lebens (von last universal common ancestor).
Alle Lebewesen verwenden DNA, RNA und Proteine als grundlegende Bausteine. Und sie nutzen den genetischen Code, der den Informationsfluss zwischen diesen Bausteinen regelt. Das legt die Hypothese nahe, dass alle Lebewesen einen gemeinsamen Ursprung haben1: LUCA wäre dabei nicht die zuerst entstandene Lebensform, sondern die letzte, die allen Lebewesen gemeinsam ist. Auch LUCA hätte damit schon Millionen von Jahren der Evolution hinter sich – und mit ihm der genetische Code.
Vom Zufall bestimmt?
Francis Crick, einer der Entdecker der DNA-Struktur, machte sich schon in den 1960er Jahren Gedanken über die Herkunft des Codes2. Er brachte den Zufall ins Spiel: Demnach gab es in der frühen Phase der Evolution einen Punkt, an dem der genetische Code so komplex wurde, dass er nicht mehr veränderlich war. Jede weitere Entwicklung hätte einen Umbau des Stoffwechsels erfordert – mit so großem Aufwand, dass jeder Versuch ein Weiterleben höchst unwahrscheinlich macht.
LUCA ist die Verkörperung dieser Entwicklungsstufe. Die Evolution des Codes wäre an diesem Zeitpunkt eingefroren und der aktuelle Schlüssel – die Zuordnung von Codons und Aminosäuren – für immer festgelegt. Die Eigenschaften des Schlüssels wären dabei zweitrangig gewesen, im Extremfall wären sie sogar rein vom Zufall bestimmt. "Frozen accident" (gefrorener Zufall) nannte Crick diese Hypothese.
Doch die Zufalls-Hypothese ist wohl zu einfach – der genetische Code zeigte klare Anzeichen einer natürlichen Selektion. Wissenschaftler haben analysiert, wie robust dieser Code gegenüber Ablesefehlern ist3, und das Ergebnis war beeindruckend: Nur ein einziger unter einer Million zufälliger Code-Schlüssel würde weniger Fehler erlauben als der Code von LUCA. Fehler bei der Ablesung des Codes führen zu nutzlosen oder gar toxischen Proteinen – geeigneter Ansatzpunkt für die natürliche Selektion.
Dennoch ist der genetische Code weit davon entfernt, optimal zu sein: Die Zahl der theoretisch möglichen Code-Schlüssel ist so hoch, dass selbst ein verschwindend kleiner Prozentsatz noch eine gewaltige Zahl darstellt. Unzählige Schlüssel bieten also eine bessere Fehlertoleranz als der Code von LUCA.
Neuere Untersuchungen haben auch gezeigt, dass der genetische Code eine optimale Ausnutzung knapper Ressourcen ermöglicht. Der Stoffwechsel kann flexibel reagieren, falls ein Mangel an den Bausteinen Kohlenstoff oder Stickstoff besteht9. Allerdings sind die Vorteile eher gering, und es ist unklar, ob sie die evolutionäre Selektion maßgeblich beeinflussen konnten.
Viele Forscher gehen daher davon aus, dass es eine Mischung aus Zufall und Selektion war, die den Code geprägt hat. Laut dieser Hypothese entwickelte sich der Code anfangs nach den Regeln der Darwinschen Evolutionstheorie, bis er schließlich an einen Punkt gelangte, wo eine weitere Optimierung mehr Nachteile als Vorteile mit sich brachte. An diesem Punkt wurde der Code eingefroren.
Der genetische Code ist veränderbar
Oder zumindest fast. Denn die Evolution des Codes lief weiter, wenn auch nur in seltenen Ausnahmen: Einzelne Codons wurden umgedeutet und mit neuen Aufgaben versehen4. Dieses Phänomen findet sich gehäuft im Genom von Mitochondrien – allgegenwärtige Organellen, welche Zellen mit Energie versorgen. Abweichungen finden sich aber auch in Bakterien5 und im Kern-Genom von Algen6, Parasiten7 und Hefen8. Etwa 20 Codons sind im Laufe der Evolution umgewidmet worden – die Abweichungen sind jedoch weit über die einzelnen Lebewesen verstreut. Der ursprüngliche Code von LUCA bleibt immer deutlich erkennbar.
Dennoch ist klar: Der genetische Code ist veränderbar. Diese Erkenntnis hat in Wissenschaftlern den Ehrgeiz erweckt, durch gezielte Manipulationen die Produktion von künstlichen Proteinen zu steuern. Die Vielfalt der praktischen Anwendungen ist enorm, Enzyme mit ungewöhnlichen Eigenschaften, neuartige Medikamente oder eine effizientere Herstellung von Bio-Treibstoffen gehören dazu. Eine neue Fachrichtung – die synthetische Biologie – hat sich zum Ziel gesetzt, die Fähigkeiten der Natur für eigene Zwecke zu nutzen. Die Umprogrammierung des genetischen Codes liefert den Schlüssel dazu.
Tatsächlich ist es gelungen, ein Codon in dem Bakterium E. coli zu recodieren – sprich, ihm eine neue Funktion zuzuweisen. Dazu entfernten die Forscher eines der drei Stopp-Codons aus dem Genom und ersetzten es vollständig durch ein anderes. Dann verknüpften sie das freigewordene Codon mit einer Aminosäure, die in der Natur nicht vorkommt: Ein künstliches Protein mit neuartigen Eigenschaften wurde erzeugt. Erstmals haben Forscher damit einen recodierten Organismus erzeugt, der einen künstlichen genetischen Code verwendet.
Noch ist unklar, wie weit die Manipulation des genetischen Codes gehen kann. Wird nur die Änderung einzelner Codons toleriert oder kann der Code in seiner Gänze umprogrammiert werden? Die Antwort auf diese Frage wird dazu beitragen, dass wir die Eigenheiten des genetischen Codes besser verstehen lernen. Und vielleicht wird dabei auch etwas Licht auf seine Evolution fallen.
Teil 2/2: Evolution und Manipulation des genetischen Codes
2 F. Crick, The Origin of the Genetic Code, J. Mol. Biol. 1968, vol. 38, pp. 367-79
alle Referenzen anzeigen
3 Koonin und Novozhilov, Origin and evolution of the genetic code: the universal enigma, IUBMB Life 2009, vol. 61, pp. 99-111 (Link)4 Söll und Rajbhandary, Whence the genetic code? Thawing the 'frozen accident, J. Biosci. 2006, vol. 31, pp. 459-63 (Link)
5 Ivanova et al., Stop codon reassignments in the wild, Science 2014, vol. 344, pp. 909-13 (Link)
6 Schneider et al., Strong homology between the small subunit of ribulose-1,5-bisphosphate carboxylase/oxygenase of two species of Acetabularia and the occurrence of unusual codon usage, Mol. Gen. Genet., vol. 218, pp. 445–452 (1989)
7 Baranov und Atkins, No stopping with a short-stem transfer RNA, Nature, Januar 2023 (Link)
8 Mühlhausen et al., A novel nuclear genetic code alteration in yeasts and the evolution of codon reassignment in eukaryotes, Genome Res., Mai 2016 (Link)
9 Polz und Cordero, The genetic law of the minimum, Science November 2020 (Link)
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Kurz und knapp
- der genetische Code entstand wahrscheinlich zu der Zeit, als der letzte gemeinsame Vorfahr aller Lebewesen auf der Erde existierte
- er zeigt Anzeichen natürlicher Selektion
- es gibt dennoch viele mögliche Code-Schlüssel, die eine höhere Fehlertoleranz aufweisen als der Standard-Code
- vermutlich unterlag der genetische Code anfangs einem evolutionärem Prozess, wurde dann aber an einem zufälligen Punkt eingefroren
- Forscher können heute den genetischen Code manipulieren und Proteine mit neuartigen Eigenschaften erzeugen