Was sind Stammzellen?
Stammzellen können sich nahezu unbegrenzt vermehren. Sie erneuern sich selbst, bilden aber auch alle anderen Zellen des Körpers.
Stammzellen teilen und entwickeln sich. Das klingt zunächst wenig beeindruckend – ist aber entscheidend für die Entstehung und das Überleben jedes mehrzelligen Organismus. Nur so kann aus der Eizelle – quasi der Mutter aller Stammzellen – ein vollständiger Mensch entstehen. Und nur so können Stammzellen dafür sorgen, dass Organe bis ins hohe Alter funktionsfähig bleiben.
Stammzellen haben noch weitere Eigenschaften, die sie von den meisten normalen Körperzellen unterscheiden:
- Stammzellen können sich auf zwei Arten teilen – symmetrisch und asymmetrisch.
- Stammzellen sind variabel in ihrer Entwicklungsfähigkeit.
- Stammzellen besiedeln oft besondere „Nischen‟, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.
- Stammzellen nutzen ausgedehnte Ruhephasen, um ihr Erbgut vor Schäden zu schützen.
Die Teilung der Stammzellen
Auf dem Weg von der Eizelle zum erwachsenen Menschen entstehen rund 30 Billionen Körperzellen. Das zeigt deutlich: Die Teilung und Vermehrung der Stammzellen ist ein wesentlicher Teil ihrer Funktion. Dieses gewaltige Wachstum von Körperzellen ist bis ins kleinste Detail organisiert. Um diese Aufgabe zu bewältigen, verfügen Stammzellen über zwei Arten der Teilung. Die eine sorgt für den Erhalt der Stammzellen, die andere erzeugt die Vielfalt der Körperzellen.
Symmetrische Teilung
Fast alle Körperzellen – die Stammzellen eingeschlossen – verfügen über die Fähigkeit, sich symmetrisch zu teilen. Dabei werden die Bestandteile der Zelle gleichmäßig verteilt: Es entstehen zwei Tochterzellen, die mit der Mutterzelle weitgehend identisch sind.
Normale Körperzellen nutzen diese symmetrische Teilung, um Organe zu vergrößern oder um kleinere Schäden zu beheben. Doch die meisten Körperzellen können nur eine begrenzte Anzahl von Teilungen durchlaufen. Danach haben sie ihr Potenzial ausgeschöpft und stellen das Wachstum unwiderruflich ein. Dieser Zustand wird Zellalterung oder zelluläre Seneszenz genannt.
Bei Stammzellen verläuft die symmetrische Teilung in vielerlei Hinsicht ähnlich wie bei anderen Zellen. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Stammzellen können sich unbegrenzt teilen. Dabei entstehen immer wieder neue Stammzellen, über Jahrzehnte hinweg und in nahezu unbeschränkter Zahl. Die symmetrische Teilung macht Stammzellen also in gewisser Weise unsterblich.
Asymmetrische Teilung
Stammzellen sind die einzigen Zellen im Körper, die noch eine zweite Art der Teilung beherrschen: Bei der asymmetrischen Teilung entsteht nur eine Stammzelle – die zweite Zelle ist bereits auf dem Weg zur Gewebezelle1. Die asymmetrische Teilung erzeugt eine Vielzahl unterschiedlicher Zellen, die in allen Organen des Körpers zum Einsatz kommen.
Die asymmetrische Teilung ist ein sehr komplizierter Vorgang. Viele Bestandteile der Zelle werden dabei ungleich verteilt: Proteine, Organellen und RNA-Moleküle. Sogar die DNA-Stränge werden manchmal bevorzugt der einen oder anderen Tochterzelle zugeordnet. Durch diese Asymmetrie entstehen Zellen mit unterschiedlichen Eigenschaften, die sich auch unterschiedlich entwickeln.
Vor allem bei der Entstehung von Blutzellen ist die asymmetrische Teilung unverzichtbar. Lange glaubten Forscher, dass dies auch für die meisten anderen Gewebe gilt. Seit einigen Jahren ist jedoch klar, dass sich das Verhalten vieler Stammzellen kaum mit asymmetrischer Teilung erklären lässt. So nutzen Darmstammzellen einen Mechanismus, der ohne asymmetrische Teilung auskommt und trotzdem die Stammzellpopulation stabil hält2.
Der menschliche Körper verfügt also über mehrere Möglichkeiten, eine Vielfalt an Zellarten zu erzeugen. Die asymmetrische Teilung ist zweifellos einer der wichtigsten Mechanismen, aber bei weitem nicht der einzige.
Stammzellen mit unterschiedlicher Entwicklungsfähigkeit
Die Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis zum fertigen Menschen hinterlässt auch bei den Stammzellen Spuren. Ihre Eigenschaften verändern sich und ein Teil ihrer Entwicklungsfähigkeit geht dabei verloren. Diese Entwicklungsfähigkeit – in diesem Zusammenhang als Potenz bezeichnet – kann drei verschiedene Formen annehmen.
Totipotenz – aus einer Zelle entsteht ein Mensch
Die befruchtete Eizelle hat eine einzigartige Fähigkeit: Aus ihr kann sich ein vollständiger Mensch entwickeln. Diese Fähigkeit wird Totipotenz genannt. Entscheidend ist dabei, dass die Eizelle nicht nur alle Körperzellen hervorbringt, sondern auch an der Entwicklung der Plazenta beteiligt. Nur mit Hilfe der Plazenta kann sich der frühe Embryo in der Gebärmutter einnisten und zum Fetus weiterentwickeln.
Die Totipotenz ist eine sehr kurzlebige Eigenschaft: Bereits nach zwei bis drei Zellteilungen ist die Entwicklungsfähigkeit stark eingeschränkt. Die Entwicklung einer Plazenta ist dann nicht mehr möglich.
Pluripotenz – jede Zelle des menschlichen Körpers hervorbringen
Auch wenn sie nicht mehr totipotent sind, besitzen die Zellen des frühen Embryos noch eine beeindruckende Entwicklungsfähigkeit: Sie können jedes Gewebe des menschlichen Körpers hervorbringen3. Diese Fähigkeit nennt sich Pluripotenz. Die Pluripotenz geht etwa ab dem Zeitpunkt verloren, an dem sich der Embryo als Blastozyste in der Gebärmutter einnistet.
Der Verlust beider Fähigkeiten – der Totipotenz und der Pluripotenz – ist in der Regel nicht mehr umzukehren. Denn in das Erbgut der Zellen werden Signale eingefügt, die das Anschalten bestimmter Entwicklungsprogramme verhindern. Diese Signale ergänzen die Erbinformation, die in der Abfolge der DNA-Basen gespeichert ist. Der Fachbegriff lautet epigenetische Markierungen.
Forscher haben Wege gefunden, diese epigenetischen Markierungen wieder aus dem Erbgut von Zellen zu entfernen. Neben den embryonalen Stammzellen gibt es daher noch weitere Zellarten, die eine weitreichende Entwicklungsfähigkeit besitzen:
- Der somatische Kerntransfer, aus dem das Klonschaf Dolly hervorging, kann aus normalen Gewebezellen pluripotente oder sogar totipotente Stammzellen erzeugen.
- Induzierte pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) entstehen auf einem anderen Weg: Vier Gen-Faktoren programmieren Gewebezellen so um, dass sie wieder alle Eigenschaften von pluripotenten Stammzellen erlangen.
Multipotenz – die Zellen eines bestimmten Gewebes hervorbringen
Im Körper eines erwachsenen Menschen finden sich Stammzellen, deren Entwicklungsfähigkeit jedoch eingeschränkt ist. Sie können immer noch verschiedene Zelltypen hervorbringen, die aber alle zum gelichen Körpergewebe oder Organ gehören. Diese Form der Entwicklungsfähigkeit nennt sich Multipotenz.
In vielen Geweben finden sich daher spezialisierte Stammzellen, die für die Reparatur und Aufrechterhaltung von Körperfunktionen zuständig sind. Diese multipotenten Zellen werden auch adulte Stammzellen genannt.
Multipotente Stammzellen entstehen bereits vor der Geburt im Körper des heranwachsenden Kindes. Zwei besondere Formen dieser Stammzellen haben in der Vergangenheit immer wieder für Diskussionen gesorgt.
- Fetale Stammzellen: Diese Zellen werden häufig aus abgetriebenen Feten gewonnen. Häufig handelt es sich um ein Gemisch verschiedener Zelltypen, deren Eigenschaften nur unzureichend charakterisiert sind.
- Nabelschnurblut-Stammzellen: Unmittelbar nach der Geburt findet sich in der Nabelschnur noch ein Rest Blut, der entwicklungsfähige Stammzellen enthält. Diese Stammzellen sind auf die Entwicklung von Blut- und Immunzellen festgelegt.
Entwicklung in der Nische
Stammzellen sind in der Regel nicht zufällig im Gewebe verteilt. Sie besiedeln besondere Bereiche und suchen die Nähe zu bestimmten Zellen. Diese Umgebung – der Bereich mitsamt aller Zellen – wird als Stammzellnische bezeichnet4. In dieser Nische tauschen die Stammzellen ständig Signale mit den umgebenden Zellen aus. Dieser Austausch trägt dazu bei, die Funktionsfähigkeit und Langlebigkeit der Stammzellen zu gewährleisten.
In manchen Geweben dient die Nische auch dazu, das Gleichgewicht zwischen Stammzellen und sich entwickelnden Körperzellen aufrecht zu erhalten. Alle Stammzellen teilen sich dort symmetrisch. Allerdings ist der Platz in der Nische begrenzt: Nur die Zellen, die Platz in der Nische finden, bleiben auch Stammzellen. Viele der neu entstandene Zellen müssen jedoch die Nische verlassen – sie werden zu spezialisierten Gewebezellen5.
Dieser Mechanismus sorgt zuverlässig dafür, dass die Population der Stammzellen auf einer konstante Größe gehalten wird. Eine asymmetrische Teilung ist in diesem Fall überflüssig. Solche Nischen finden sich in der Haut und in den Schleimhäuten einiger innerer Organe, z.B. im Darm, im Magen und in der Speiseröhre.
Ruhephasen für ein langes Leben
Manche Stammzellen legen auch längere Ruhephasen ein, in denen sie sich kaum teilen. Dieses Verhalten schützt ihr Erbgut, denn bei der Zellteilung besteht immer die Gefahr, dass die DNA geschädigt wird. Diese Schäden können die Funktion der Zellen einschränken und ihre Lebensdauer verkürzen. Längere Ruhephasen (der Fachbegriff lautet Quieszenz) bedeuten weniger Schäden - und verhelfen den Stammzellen zu einer längeren Lebensdauer.
Stammzellen mit langen Ruhephasen finden sich vor allem im Knochenmark und in der Skelettmuskulatur6. In diesen Geweben teilen sich vor allem die Tochterzellen und tragen zum Gewebeaufbau bei. In anderen Organen scheinen Ruhephasen dagegen eher die Ausnahme zu sein. Die Quieszenz ist also nur eine mögliche, aber keine zwingende Voraussetzung für die Langlebigkeit von Stammzellen.
Es geht auch ohne Stammzellen
Die meisten Gewebe benötigen Stammzellen für ihre Funktion, aber es gibt auch prominente Ausnahmen. So besteht das Gehirn aus Nervenzellen, die oft ein ganzes Menschenleben überdauern und kaum ersetzt werden müssen. Stammzellen sind daher in einem erwachsenen Gehirn kaum noch zu finden.
Ein anderes Beispiel ist ausgerechnet die Leber - das menschliche Organ mit der höchsten Regenerationsfähigkeit. Selbst wenn ein Mensch die Hälfte seiner Leber verliert, kann sich das Organ vollständig erholen. Dafür sorgen die Leberzellen selbst, die sich bei Bedarf schnell teilen und die Lücken schließen.
Fazit: Eine Zelle mit vielen Eigenschaften
Das Bild der Stammzellen wurde jahrelang durch die Eigenschaften der blutbildenden Zellen im Knochenmark bestimmt. Diese bilden jedoch in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme. Inzwischen ist klar: Verhalten, Funktion und Entwicklungsfähigkeit von Stammzellen sind sehr variabel.
Zwar gibt es einige Merkmale, die sehr häufig vorkommen. Aber im Grunde hat jedes Körpergewebe seine eigene Population von Stammzellen2,5. Mit oft sehr unterschiedlichen Eigenschaften, die vermutlich genau auf die Funktion und die Bedürfnisse des jeweiligen Gewebes abgestimmt sind.
2 Saxena et al., Epigenetic Signatures and Plasticity of Intestinal and Other Stem Cells, Annual Review of Physiology, Februar 2021 (Link)
alle Referenzen anzeigen
3 Riveiro et al., From pluripotency to totipotency: an experimentalist's guide to cellular potency, Development, August 2020 (Link)4 Hicks und Pyle, The emergence of the stem cell niche, Trends in Cell Biology, Februar 2023 (Link)
5 Beumer und Clevers, Hallmarks of stemness in mammalian tissues, Cell Stem Cell, Januar 2024 (Link)
6 de Morree und Rando, Regulation of adult stem cell quiescence and its functions in the maintenance of tissue integrity, Nature Reviews Molecular Cell Biology, Mai 2023 (Link)
Definition Stammzellen
Stammzellen können sich unbegrenzt teilen. Sie bringen dabei neue Stammzellen hervor, verwandeln sich aber auch in andere Körperzellen. Diese Körperzellen können Gewebe aufbauen oder verlorene Zellen ersetzen.
Stammzellforschung
Arten von Stammzellen
Kurz und knapp
- die symmetrische Teilung der Stammzellen bringt immer neue Stammzellen hervor
- die asymmetrische Teilung erzeugt eine Stammzelle und eine Gewebezelle
- embryonale Stammzellen können alle Gewebe bilden, adulte nur bestimmte
- Stammzellen besiedeln Nischen, die ihre Funktion unterstützen
- manche Stammzellen legen längere Ruhephasen ein
- die verschiedenen Arten von adulten Stammzellen haben sehr unterschiedliche Eigenschaften