Die komplizierte Entwicklung der Metastasen
Schwachstellen im Erbgut oder Sauerstoffmangel? An der Entwicklung von Metastasen sind viele Faktoren beteiligt.
Manchmal gehen Krebszellen auf Wanderschaft. Sie verlassen den Ort ihrer Entstehung – den Primärtumor – und lassen sich über Lymphbahnen und Blutgefäße in andere Gewebe treiben. Im menschlichen Körper ist das ein ungewöhnliches Verhalten, denn mit der Ausnahme der Blutzellen neigen alle anderen Zellen zur Sesshaftigkeit. Warum sind Metastasen anders?
Die Antwort darauf fällt nicht leicht. Denn die Entwicklung von Metastasen ist ein komplizierter Prozess ist1, der in mehreren Schritten abläuft:
- In Krebszellen muss das Bestreben erwachen, sich auf eine Reise durch den Körper zu begeben.
- Die wandernden Zellen müssen sich einen Weg in die Lymph- und Blutgefäße bahnen.
- Schließlich müssen sie in dem neuen Gewebe eine Nische finden, in der sie wachsen können.
1. Krebszellen werden mobil
Am Anfang dieses Prozesses steht ein grundlegender Wandel: Die vormals sesshaften Krebszellen erlangen Eigenschaften, die für die Wanderung unerlässlich sind. Die Ursachen dieser Veränderung sind noch unklar, denn anders als bei den gut charakterisierten Onkogenen, die bei der Entstehung von Krebs mitwirken, ist über das Wechselspiel von Erbgut und Metastasen nur wenig bekannt.
Anläufe gab es genug: Viele Studien haben nach Unterschieden im Erbgut von Primärtumoren und Metastasen gesucht. Doch nur wenige Gene zeigten sich bislang auffällig – vor allem der Tumorsuppressor p53 und das Stoffwechselenzym PHGDH. Bemerkenswert war auch, dass das Auftreten von Metastasen oft von einer Instabilität der Chromosomen begleitet wird3. Große Umlagerungen, die etwa zu copy number variations führen, könnten das Entstehen von mobilen Krebszellen begünstigen.
Eine Rolle spielen auch die Bedingungen, die innerhalb des Krebsgewebes vorliegen. Dort herrscht oftmals ein Mangel an Sauerstoff, denn ein Tumor wird in der Regel nicht ausreichend mit Blut versorgt. Diese sogenannte Hypoxie stresst die Krebszellen und schaltet Signalwege an, die die Bildung von Metastasen begünstigen können4.
2. Krebszellen gehen auf Wanderschaft
Ob Hypoxie oder genetische Instabilität – am Ende erwerben Krebszellen Eigenschaften, die ihnen die Wanderung erleichtern. Da ist zum einen der Verlust von Proteinen, die auf der Oberfläche von Zellen sitzen und die Bindung an andere Zellen vermitteln. Ohne diese sogenannten Adhäsionsmoleküle fällt es den Krebszellen leichter, sich aus dem Gewebeverband loszureißen.
Zudem müssen metastasierende Zellen Enzyme freisetzen, die einzelne Bestandteile des Gewebes verdauen. Dies hilft bei der Überwindung von Barrieren, die den Zugang zu Blut- und Lymphbahnen versperren.
Die Umwandlung der Krebszellen trägt einen den komplizierten Namen – epithelial-mesenchymale Transition5. Forscher kennen diesen Prozess aus der Entwicklung eines Embryos: Aus ortsgebundenen Epithelzellen werden Zellen, die besser wandern können. Sie werden auch derart vermehrungsfreudig, dass sie mesenchymalen Stammzellen ähneln. Krebszellen haben diesen Prozess für ihre Zwecke adaptiert und schaffen so den Sprung von einem Gewebe zum anderen.
Metastasen wandern oft als einzelne Zellen durch das Blut – doch manchmal auch als kleiner Zellverband6. Diese Verbände können aus unterschiedlichen Klonen bestehen, die sich die Arbeit teilen: Die einen erleichtern die Wanderung durch das Blut, die anderen wachsen schneller zu Kolonien heran. Dass manche Metastasen aus verschiedenen Klonen bestehen, wussten Forscher schon länger – die Wanderung in kleinen Gruppen könnte eine Erklärung dafür sein.
3. Krebszellen suchen sich ein neues Zuhause
Doch irgendwann müssen die Krebszellen das Blut wieder verlassen. Häufig erfolgt dies in Leber, Lunge oder Knochenmark: Diese Organe sind stark durchblutet, so dass viele Zellen sie durchqueren müssen. Einige bleiben dort auch hängen. Eine Rolle spielen aber auch die bereits erwähnten Adhäsionsmoleküle, die den Kontakt zum neuen Gewebe vermitteln. In den Nebennieren finden sich daher vor allem Metastasen aus Lunge und Darm – weil diese Zellen dort besonders gut andocken können.
Schließlich müssen sich die Metastasen noch in dem neuen Gewebe festsetzen. Eine neuere Hypothese besagt, dass die Primärtumore dabei eine aktive Rolle spielen: Sie setzen kleine Membranpartikel frei, die Wachstumsfaktoren in andere Gewebe transportieren und diese für die Besiedlung vorbereiten7. Die Krebszellen setzen sich dann bei ihrer Ankunft sozusagen in das gemachte Nest.
Wann entstehen Metastasen? Früher gingen Forscher davon aus, dass Metastasen erst in einer späten Phase der Tumorentwicklung entstehen. Dies wird als lineare Entwicklung bezeichnet: Zuerst reift der Primärtumor heran und erst am Ende streut er Kolonien aus. Doch mittlerweile ist klar, dass auch eine parallele Entwicklung möglich ist. Der Primärtumor beginnt früh damit, Metastasen in den Körper freizusetzen, und dieser Prozess setzt sich während seiner gesamten Entwicklung fort. Auf diese Weise entstehen Metastasen, die sich stark voneinander unterscheiden können3.
Forscher haben in den letzten Jahren viel Arbeit investiert, um die Bildung und das Verhalten von Metastasen zu untersuchen. Dennoch gelingt es erst in Ansätzen, das komplizierte Zusammenspiel der einzelnen Faktoren zu entwirren. Viele weitere Jahre der Forschung werden notwendig sein, um diesen Prozess in seiner Gesamtheit zu verstehen.
Teil 2/3: Die komplizierte Entwicklung der Metastasen
Teil 3/3: Metastasen – leicht zu entdecken, schwer zu behandeln
2 Rossi et al., PHGDH heterogeneity potentiates cancer cell dissemination and metastasis, Nature, Mai 2022 (Link)
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3 Turajlic und Swanton, Metastasis as an evolutionary process, Science 2016 (Link)4 Liu et al., Hypoxia and the Tumor Secretome, Adv Exp Med Biol, 2019 (Link)
5 Aiello und Kang, Context-dependent EMT programs in cancer metastasis, Journal of Experimental Medicine, April 2019 (Link)
6 Nasr und Lynch, How circulating tumor cluster biology contributes to the metastatic cascade: from invasion to dissemination and dormancy, Cancer Metastasis Reviews, Juli 2023 (Link)
7 J. Kaiser, Malignant messengers, Science 2016 (Link)
Definition Metastasen
Metastasen sind Tochtergeschwülste eines Tumors aus einem anderen Körpergewebe. Sie stammen von bösartigen Krebszellen ab, die sich vom ursprünglichen Primärtumor gelöst und über Blut- und Lymphbahnen an ihren neuen Ort gewandert sind.
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Kurz und knapp
- die Entwicklung von Metastasen ist ein mehrstufiger Prozess
- eine epithelial-mesenchymale Transition treibt sesshafte Krebszellen zur Wanderschaft an
- genetische Instabilität und Sauerstoffmangel im Tumorgewebe scheinen diesen Prozess voranzutreiben
- der Verlust von Adhäsionsmolekülen und die Freisetzung von Enzymen ermöglicht die Wanderung der Krebszellen
- manchmal wandern Krebszellen in kleinen Zellhaufen, die polyklonale Metastasen hervorbringen
- der Primärtumor setzt Signale frei, die eine Besiedelung anderer Organe unterstützen könnten