Nabelschnurblut und Autismus – ein fragwürdiger Ansatz

Kann die Infusion von Nabelschnurblut autistischen Kindern helfen? Alle bisherigen Studien blieben erfolglos, dennoch werden derartige Behandlungen weiter angeboten.

Eines von 110 Kindern wird heute als Autist eingestuft, deutlich mehr als noch vor einigen Jahren. Die Möglichkeiten zur Behandlung sind begrenzt, eine Heilung kaum möglich. Manche Mediziner und viele Eltern setzen ihre Hoffnung daher auf neue, unkonventionelle Ansätze1.

Nervenzelle: Subtile Veränderungen in der Verschaltung von Nervenzellen könnten die Ursache von Autismus sein. (Bild: Lee et al., PLoS Biology CC 2.5)

Nabelschnurblut als Therapie von Autismus

Einen dieser Ansätze verfolgt Joanne Kurtzberg,, eine Ärztin an der Duke Universität im US-amerikanischen North Carolina2. Kurtzberg gilt als eine Pionierin der Nabelschnurblut-Medizin, da sie gleich mehrere neue Therapien entwickelte: 1993 heilte sie erstmals ein leukämiekrankes Kind mit Nabelschnurblut, 1998 gelang ihr die erste Therapie einer erblichen Stoffwechselkrankheit, und seit 2004 erprobt sie den Einsatz von Nabelschnurblut bei Kinder mit Zerebralparese.

Seit 2014 versuchen Forscher um Joanne Kurtzberg, ähnliche Erfolge auch bei Autismus zu erzielen. Sie injizierten 25 autistischen Kindern das eigene Nabelschnurblut in die Vene – mit der Hoffnung, die Entwicklung der Kinder zu fördern3.

Die Ergebnisse blieben im Wesentlichen enttäuschend. Positiv war nur: Die Infusion von Nabelschnurblut stellte keine Gefährdung für die Kinder dar. Ob sie jedoch auch wirksam war, blieb unklar. Die mentalen Fähigkeiten einiger Kinder hatten sich zwar spürbar verbessert – aber dies vor allem bei Kindern, die auch schon vorher in Tests besser abgeschnitten haben.

Drei Studien in den USA blieben erfolglos

Sechs Jahre später wurde auch der zweite, deutlich größere Teil der Studie abgeschlossen2. Diesmal nahmen 180 autistische Kinder teil und zudem gab es eine unbehandelte Kontrollgruppe. Das Ergebnis war eindeutig negativ – keine Verbesserung der sozialen Fähigkeiten und keine Verringerung der autistischen Symptome4.

Eine dritte Studie fand am US-amerikanischen Sutter-Institut in Sacramento statt. Sie wurde 2018 beendet: 29 autistische Kinder erhielten ihr eigenes Nabel­schnur­blut behandelt5. Die Zahl der Patienten war zwar recht klein, doch die Auswertung erfolgte randomisiert und doppelt verblindet – die Gefahr war also gering, dass persön­liche Interessen das Ergebnis verfälschen.

Die Resultate gaben ebenfalls wenig Anlass, an die Wirksamkeit von Nabelschnurblut bei Autismus zu glauben. Weder das Sprachvermögens noch das Sozialverhalten wurden durch die Behandlung statistisch signifikant verbessert. Allerdings glaubten die Autoren der Studie einen positiven Trend entdeckt zu haben, der weitere Versuche rechtfertigen sollte.

Das Fazit ist eindeutig: Drei klinische Studien erbrachten nur minimale Hinweise, dass die Infusion von Nabelschnurblut die Entwicklung autistischer Kinder fördert. Umso erstaunlicher waren die Reaktion vieler Autoren – sie machten einfach mit ihren Versuchen weiter.

„Anwendung aus Mitgefühl“

Und so wurden trotz der gescheiterten Versuche an der Duke Universität bis ins Jahr 2022 weiterhin autistische Kinder mit Nabelschnurblut behandelt. Nicht als klinische Studie, sondern im Rahmen des Compassionate Use („Anwendung aus Mitgefühl“): In den USA erlaubt dieses Programm die Anwendung von nicht zugelassenen Arzneimitteln. Mindestens 460 Kinder erhielten eine Transplantation, die meisten von ihnen waren Autisten6.

Die Duke Universität arbeitete dabei mit einer privaten Firma zusammen. Die Eltern mussten sogar für die experimentelle Behandlung bezahlen – es bestand also ein erheblicher finanzieller Anreiz für die Firma und die Universität7. Dieser potenzielle Interessenkonflikt hatte eine sehr kontroverse Diskussion ausgelöst1,8,9.

Anfang 2023 stoppte die Duke Universität jedoch das Programm: Die Gründe dafür wurden nicht mitgeteilt10. Dass die Nabelschnurblut-Behandlung den Kindern geholfen hat, erscheint angesichts des Stopps jedoch sehr unwahrscheinlich.

Wie soll Nabelschnurblut bei Autismus helfen?

Der Einsatz von Nabelschnurblut war von Anfang an umstritten. Vor allem deshalb, weil eine zentrale wissenschaftliche Frage weiterhin offen bleibt: Auf welchem Weg soll Nabelschnurblut bei Autismus helfen11? Selbst den Leitern der medizinischen Studien fällt die Antwort schwer.

Bei allen Therapien zuvor war das Nabelschnurblut nur erfolgreich, wenn die Ursachen der Krankheit und das Ziel der Behandlung klar definiert waren. Das konnte z.B. der Neuaufbau eines zerstörten Blutsystems oder die Kompensation eines einzelnen Gendefekts sein.

Die Ursache von Autismus bleibt hingegen weitgehend unbekannt. Damit bleibt auch unklar, wie Nabelschnurblut den Autisten helfen soll.

Eine Therapie für eine Vielzahl von Störungen?

Erschwerend kommt hinzu, dass Autismus keine einzelne Krankheit, sondern eine Vielzahl von Störungen mit überlappenden Symptomen ist. Fast jeder Autist ist ein besonderer Fall. Und ähnlich vielfältig sind vermutlich die Ursachen der Erkrankung.

Erbgut und Umwelt

Forscher sind sich sicher, dass sowohl Erbgut als auch Umwelt eine Rolle bei der Entstehung der Krankheit spielen. Doch da hört das Wissen auch schon fast auf: Dutzende von Genvarianten scheinen beteiligt zu sein, doch fast jede vermittelt nur einen geringen Teil des Risikos. Und über den Einfluss der Umwelt ist noch weniger bekannt.

Fehlentwicklungen im Gehirn

Als mögliche physiologische Grundlage der autistischen Störungen werden häufig Fehlentwicklungen im Gehirn diskutiert. Doch worin diese Fehlentwicklungen genau bestehen, ist ebenfalls noch unbekannt. Viele der Genvarianten, die mit der Entstehung von Autismus in Verbindung gebracht wurden, beeinflussen die Verknüpfung von Nervenzellen. Darauf stützt sich die verbreitete Hypothese, dass subtile Änderungen in der Verschaltung der Nervenbahnen eine wichtige Rolle spielen.

Kunstdrucke- Anzeige -

Kunstdrucke und Naturfotografie von Jens Rosbach

Naturfotografie auf jensrosbach.de

Entzündungen und das Immunsystem

Manche Forscher vermuten auch eine Rolle des Immunsystems, und an dieser Stelle setzt die Nabelschnurbluttherapie an. Stammzellen aus der Nabelschnur wird eine beruhigende Wirkung auf das Immunsystem zugeschrieben, sie sollen entzündliche Reaktionen lindern. Allein aus dieser Beobachtung leitet sich die Hoffnung ab, dass die Zellen auch bei Autisten hilfreich sein könnten.

Wie kommen die Zellen ins Gehirn?

Selbst wenn man die konzeptionellen Problem außer acht lässt – auch in der Praxis tauchen zahlreiche Probleme auf. So wird in allen Studien das Nabelschnurblut nicht in das Gehirn, sondern in die Venen der Patienten eingespritzt. Aus den Blutgefäßen gelangen die Zellen aber nicht ohne weiteres ins Gehirn, da die Blut-Hirn-Schranke bei körperlich gesunden Menschen – die Autisten ja meist sind – eine schwer zu überwindende Barriere bildet. Es ist also unwahrscheinlich, dass die Nabelschnurzellen an den Ort des Geschehens gelangen.

Auch wenn die Nabelschnurzellen ins Gehirn gelangen – wie sollten sie ihre Wirkung ausüben? Sie können sich nicht direkt in Nervenzellen umwandeln, darauf gibt es im Menschen keinerlei Hinweise. /p>

Alternativ könnten die Nabelschnurzellen auch Wachstumsfaktoren freisetzen, die die Heilung von geschädigtem Gewebe unterstützen. Das kann bei einem Herzinfarkt – bei dem Milliarden von Zellen auf einen Schlag absterben – hilfreich sein, doch wie sollen sie eine sich langsam entwickelnde Entwicklungsstörung beeinflussen? Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass Wachstumsfaktoren subtile Fehlschaltungen zwischen ansonsten normalen Nervenzellen beheben können.<

Fazit

Die bisherige Erfahrung zeigt, dass Nabelschnurblut-Stammzellen dann hilfreich sind, wenn sie ihre eigentlichen Fähigkeiten gefragt sind – die Produktion von Blutzellen. Bei der Therapie von Autismus kann dies aber kaum helfen. Die bisherigen Studien enttäuschten daher auch auf ganzer Linie: Es herrschte ein großer Mangel an glaubwürdigen Konzepten, durchdachten Methoden und überzeugenden Ergebnissen.

Die Absichten hinter den Studien mögen lobenswert sein.Doch es besteht die große Gefahr, dass auf diese Weise auch falsche Hoffnungen geweckt werden. Nabelschnurblut ist kein Allheilmittel, das bei jeder nur denkbaren Krankheit Wunder bewirken kann. Studien, die auf bloßem Wunschdenken beruhen, helfen weder den Betroffenen noch der Wissenschaft weiter.

andere (mögliche) Anwendungen von Nabelschnurblut
Zerebralparese - Autismus
1 F. Verter, Parent’s Guide to Duke’s Research and Expanded Access Program of Cord Blood Therapies for Neurodevelopmental Disorders, Parent's Guide To Cord Blood, November 2021 (Link)
2 Dawson et al., A Phase II Randomized Clinical Trial of the Safety and Efficacy of Intravenous Umbilical Cord Blood Infusion for Treatment of Children with Autism Spectrum Disorder, The Journal of Pediatrics, Mai 2020 (Link)
alle Referenzen anzeigen 3 Dawson et al., Autologous Cord Blood Infusions Are Safe and Feasible in Young Children with Autism Spectrum Disorder: Results of a Single-Center Phase I Open-Label Trial, Stem Cell Translational Medicine 2017 (Link)
4 P. Knoepfler, Duke phase II trial: no benefit of cord blood for autism, The Niche, Mai 2020 (Link)
5 Chez et al., Safety and Observations from a Placebo-Controlled, Crossover Study to Assess Use of Autologous Umbilical Cord Blood Stem Cells to Improve Symptoms in Children with Autism, Stem Cells Translational Medicine, Februar 2018 (Link)
6 McLaughlin et al., Expanded Access Protocol of Umbilical Cord Blood Infusion forChildren with Neurological Conditions: An Update, Stem Cells Translational Medicine, September 2021 (Link)
7 Nascent Trader, Cryo-Cell International: Overlooked Duke Contract Signals Business Inflection, Seeking Alpha, Juni 2021 (Link)
8 P. Knoepfler, Duke & Cryo-Cell plan big stem cell clinic for kids for unproven infusions, The Niche, Juni 2021 (Link)
9 A. Merlan, A Controversial Autism Treatment Is About to Become a Very Big Business, Vice Magazine, Oktober 2021 (Link)
10 A. Merlan, Duke Has Quietly Discontinued a Costly, Unproven Autism Treatment, Vice, April 2023 (Link)
11 P. Knoepfler, Fact-checking stem cell therapy for autism: still a risky idea, The Niche, Juli 2021 (Link)
Nervenzelle: Subtile Veränderungen in der Verschaltung von Nervenzellen könnten die Ursache von Autismus sein. (Bild: Lee et al., PLoS Biology CC 2.5)

Kunstdrucke- Anzeige -

Kunstdrucke und Naturfotografie von Jens Rosbach

Naturfotografie auf jensrosbach.de

Nabelschnurblut

⇒ Nabelschnurblut

  • Die Kosten wert? mehr...
  • Einfrieren: Pro und Contra mehr...
  • Öffentliche oder private Banken? mehr...
  • Anwendung in der Therapie mehr...
  • Stammzellen für jede Gelegenheit? mehr...
  • Autismus – ein fragwürdiger Ansatz mehr...
  • Zerebralparese – der mögliche Durchbruch mehr...

⇒ Nabelschnurgewebe

  • Wie die Nabelschnur das Kind versorgt mehr...
  • Stammzellen in der Nabelschnur mehr...

Nabelschnurblut

  • Einlagern von Nabelschnurblut: Die Kosten wert? mehr...
  • Nabelschnurblut einfrieren: Pro und Contra mehr...
  • Nabelschnurblut spenden: Öffentliche oder private Banken? mehr...
  • Stammzellen aus Nabelschnurblut: Anwendung in der Therapie mehr...
  • Nabelschnurblut: Stammzellen für jede Gelegenheit? mehr...
  • Nabelschnurblut und Autismus – ein fragwürdiger Ansatz mehr...
  • Nabelschnurblut bei Zerebralparese – der mögliche Durchbruch mehr...

Nabelschnurgewebe

  • Wie die Nabelschnur das Kind versorgt mehr...
  • Stammzellen im Gewebe der Nabelschnur mehr...

Kurz und knapp

  • Nabelschnurblut soll die Entwicklung autistischer Kinder fördern
  • eine wissenschaftliche Begründung für diese Hoffnung gibt es jedoch nicht
  • dennoch haben drei klinische Studien getestet, ob die Injektion von Nabelschnurblut bei Autismus helfen kann
  • in keiner Studie hat der Eingriff nachweislich Erfolg gehabt
  • bei den angewendeten Methoden bleibt unklar, die Nabelschnurzellen auf das Gehirn einwirken sollten
  • dennoch wurden die Versuche einige Zeit lang fortgesetzt, teils finanziert durch die betroffenen Familien
OK

Diese Webseite verwendet Cookies, die für das Bereitstellen der Seiten und ihrer Funktionen technisch notwendig sind.    Info