Embryonale Stammzellen – erst umstritten, jetzt bedeutungslos?

Embryonale Stammzellen haben ein fast unbegrenztes Entwicklungspotenzial, doch ihre Bedeutung für Forschung und Medizin nimmt stetig ab.

Im Jahr 1998 konnte der US-Forscher James Thomson erstmals Stammzellen aus menschlichen Embryonen gewinnen. Sein Experiment ermöglichte neue Einblicke in die Entwicklung menschlicher Gewebe und beflügelte die Hoffnung auf neue Therapien1. Doch es löste auch heftige Proteste und ethische Kontroversen aus.

Gewinnung embryonaler Stammzellen

Blastozysten bestehen aus Trophoblasten und Embryoblasten; aus letzteren züchtet man embryonale Stammzellen.

Die ethischen Konflikte führten zu behördlichen Auflagen, die die Anwendung der embryonalen Stammzellen von Anfang an stark eingeschränkt haben. Als im Jahr 2006 mit den induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) eine weniger umstrittene Alternative aufkam, verloren die embryonalen Zellen zunehmend an Bedeutung.

Erzeugung aus dem frühen Embryo

Embryonalen Stammzellen werden aus einer frühen Form des Embryos gewonnen, dessen Zellen eine fast unbeschränkte Entwicklungsfähigkeit haben.

Dieser frühe Embryo – Blastozyste genannt – entwickelt sich nach fünf Tagen aus der befruchteten Eizelle. Die kugelförmige Blastozyste besteht aus zwei unterschiedlichen Zellarten: Die Zellen auf der Oberfläche werden zu einem Teil der Plazenta, während die Zellen im Inneren sich zu einem Embryo weiterentwickeln. Diese Embryoblasten werden im Labor isoliert und vermehrt – aus ihnen gehen die embryonalen Stammzelllinien hervor.

Unbegrenztes Entwicklungspotenzial

Die Vermehrung embryonaler Stammzellen im Labor ist nicht ohne Tücken. Sie sind sehr empfindlich, sterben leicht ab oder verändern sich auf unerwünschte Weise. Im Erfolgsfall wachsen die Zellen jedoch unbegrenzt weiter und lassen sich in großen Mengen erzeugen. Unter den richtigen Bedingungen entstehen aus ihnen alle Gewebezellen des menschlichen Körpers.

Dieses Entwicklungspotenzial macht die embryonalen Stammzellen so wertvoll. Forscher erhalten die Möglichkeit, sehr frühe Phasen der menschlichen Entwicklung in der Petrischale zu beobachten2. Auch Signale, die die Reifung der unterschiedlichen Gewebezellen auslösen, können im Detail untersucht werden.

Vielversprechend schienen auch Studien, die die Auswirkungen von Erbkrankheiten auf einzelne Zellen untersuchen sollten. Forscher hofften, dass dies ein Weg zu neuen Therapien und Medikamenten sein könnte. Sie investierten viel Arbeit in die Erzeugung von Zelllinien, die aus vorbelasteten Embryonen aus der künstlichen Befruchtung stammten3. Doch nur wenige dieser Zelllinien kamen zur Anwendung: Als sie einsatzbereit waren, drängten die iPS-Zellen in die Labore und damit die embryonale Stammzellforschung an den Rand.

Embryonale Stammzellen sind ethisch umstritten

Die iPS-Zellen konnten sich auch deshalb leicht durchsetzen, weil die embryonale Stammzellforschung von Anfang an mit großen Widerständen zu kämpfen hat. Viele christliche Gemeinschaften sehen in der Blastozyste, die für die embryonalen Zellen zerstört werden musste, bereits ein menschliches Wesen4. Nicht zuletzt die katholische Kirche vertritt diesen Standpunkt mit großer Vehemenz. Deutschland und viele andere Länder erließen strenge Gesetze oder erschwerten den Zugang zu Fördermitteln.

Die ethische Debatte ist in den letzten Jahren abgeflaut und die embryonale Stammzellforschung wird nun eher toleriert. In den USA ist dieser Stimmungswandel eindeutig5, aber auch in Deutschland waren nach den jüngsten Erfolgen der Stammzelltherapien kaum noch kritische Stimmen zu hören. Doch dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die grundsätzlichen ethischen Fragen ungelöst bleiben und die Debatte jederzeit wieder aufflammen kann.

Neue Stammzelltherapien

Den ethischen Bedenken wird oft das medizinische Potenzial entgegengestellt: Wenn embryonale Stammzelltherapien genügend Menschen helfen, scheint auch der Verbrauch von Blastozysten akzeptabel. Tatsächlich eignen sich embryonale Stammzellen in vielerlei Hinsicht ideal für die Behandlung von Krankheiten. Sie sind unbegrenzt entwicklungsfähig und noch relativ jung, ihr Genom ist weitgehend frei von schädlichen Gen­mutationen. Und sie wachsen schnell zu großen Zellmengen heran.

Eine Hürde stellen jedoch praktische Probleme dar. Embryonale Stammzellen werden vom Körper als fremd erkannt und abgestoßen. Patienten müssten ein Leben lang Medikamente nehmen, um das Immunsystem von einer Attacke abzuhalten. Und langfristig besteht die Gefahr, dass sich einzelne embryonale Stammzellen zu einer besonderen Krebsart entwickeln (Teratom genannt).

Im Oktober 2010 wurde erstmals ein querschnittsgelähmter Mensch mit embryonalen Zellen behandelt, rasch folgten weitere Studien bei Augenerkrankungen und Diabetes. Über 70 Studien sind mittlerweile abgeschlossen, im Gange oder geplant6. Die ersten Auswertungen zeigen, dass embryonale Stammzelltherapien vorerst als sicher gelten können. Das befürchtete Krebsrisiko hält sich offenkundig in Grenzen. Der mögliche Heilerfolg bleibt aber unklar: Trotz einiger ermutigender Ergebnisse sind die Studien für endgültige Aussagen noch zu klein.

Es scheint auch so, dass die iPS-Zellen bei der medizinischen Anwendung die Führungsrolle übernehmen. Mit bislang etwa 160 Studien liegt deren Gesamtzahl bereits deutlich höher, der Abstand scheint mit der Zeit auch immer größer zu werden. Im Jahr 2023 wurden 18 iPS-Zelltherapien gestartet, aber nur noch 7 embryonale Therapien6. Auch in der Medizin werden die embryonalen Stammzellen wohl bald verdrängt sein.

Fazit

Embryonale Stammzellen leisten weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Forschung, viele klinische Studien testen ihre Fähigkeiten bei schwer behandelbaren Krankheiten. Doch die ethische Debatte ist ungelöst und wird immer eine schwere Hypothek bleiben. Die iPS-Zellen haben ihnen zuletzt den Rang abgelaufen, in Zukunft werden embryonale Stammzellen wohl nur noch in Nischenbereichen die Forschung vorantreiben.

Teil 1/2: Embryonale Zellen – umstritten aber unersetzlich
Teil 2/2: Erste Therapie-Versuche mit embryonalen Zellen
1 S. Yamanaka, Pluripotent Stem Cell-Based Cell Therapy—Promise and Challenges, Cell Stem Cell, Oktober 2020 (Link)
2 Yu et al., Blastocyst-like structures generated from human pluripotent stem cells, Nature, März 2021 (Link)
alle Referenzen anzeigen 3 Ilic und Ogilvie, Human Embryonic Stem Cells—What Have We Done? What Are We Doing? Where Are We Going?, Stem Cells, Juni 2016 (Link)
4 Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften, Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen – Ethische Aspekte, Stand Januar 2024 (Link)
5 Gallup, Moral Acceptability of Embryonic Stem Cell Research, abgerufen Dezember 2024 (Link)
6 Song et al., Comparative analysis of regulations and studies on stem cell therapies: focusing on induced pluripotent stem cell (iPSC)-based treatments, Stem Cell Research & Therapy, November 2024 (Link)

Gewinnung embryonaler Stammzellen

Blastozysten bestehen aus Trophoblasten und Embryoblasten; aus letzteren züchtet man embryonale Stammzellen.
Für manche ein Mord: Bei der Gewinnung embryonaler Stammzellen werden Blastozysten – eine frühe Form des Embryos – zerstört.

Definition Embryonale Stammzellen

Embryonale Stammzellen werden aus fünf Tage alten Embryonen gewonnen. Sie können alle Gewebe und Organe des Körpers hervorbringen, mit Ausnahme der Plazenta.

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Kurz und knapp

  • für die Gewinnung von embryonalen Stammzellen muss ein fünf Tage alter Embryo, die Blastozyste, zerstört werden
  • aus embryonalen Stammzellen können alle Körpergewebe entstehen
  • embryonale Stammzellen vermehren sich schnell und eignen sich daher gut für Forschung und Medizin
  • seit Ende 2010 werden embryonale Stammzellen am Menschen getestet
  • ethische Kontroversen standen ihrem Erfolg von Anfang an im Weg
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