Embryonale Stammzelltherapien – kaum Fortschritte, ungewisse Zukunft
Embryonale Stammzellen werden bei Blindheit, Diabetes und Parkinson getestet. Noch ist unklar, ob sie auch wirkungsvoll sind.
Im Oktober 2010 erlitt ein junger US-Amerikaner einen tragischen Unfall – er blieb von der Brust abwärts gelähmt. Nur wenige Tage später transplantierten Ärzte besondere Zellen in sein Rückenmark: Sie sollten dem verletzten Gewebe helfen, die Schäden zu beheben und neue Nervenbahnen zu bilden. Es war die weltweit erste Therapie mit embryonalen Stammzellen.
Der Eingriff konnte den Zustand des querschnittsgelähmten Patienten kaum verbessern. Was damals aber viel wichtiger war: Die embryonalen Zellen lösten – entgegen anfänglicher Befürchtungen – keine Tumore aus. Damit konnte die embryonale Stammzelltherapie weiter am Menschen erprobt werden.
In den folgenden Jahren wurden mehrere Krankheiten mit embryonalen Zellen behandelt, etwa 300 Menschen nahmen bisher an diesen Studien teil. Die Ergebnisse bleiben uneinheitlich: Das Krebsrisiko scheint nach wie vor gering. Aber trotz kleiner Fortschritte hat sich der Zustand der Behandelten auch nicht wesentlich verbessert.
Inhalte
- Vorteile...
- Nachteile...
- Erblindung...
- Diabetes...
- Parkinson...
- Querschnittslähmung...
- Herzschwäche...
- Fazit...
Die Vorteile: Wandlungsfähigkeit und Wachstumsfreude
Dabei haben embryonale Stammzellen zwei große Vorteile: Sie sind wandlungsfähig und wachstumsfreudig. Im Labor können sie daher jede Gewebezelle des Menschen hervorbringen. Und zwar in so großer Zahl, dass sie theoretisch auch große Organe erneuern können.
Zuvor hatten Forscher ihre Hoffnungen vor allem auf die adulten Stammzellen gesetzt. Doch diese sind oft sehr selten und nur schwer aus dem Körper zu gewinnen. In der Medizin sind sie bis auf wenige Ausnahmen kaum einsetzbar. Embryonale Zellen boten sich hier als gute Alternative an.
Die Nachteile: Krebs, Abstoßungsreaktionen und ethische Debatten
Es gibt aber auch gravierende Nachteile:
- Ihre Wachstumsfreude kann das Krebsrisiko erhöhen.
- Sie bilden ein fremdes Gewebe, das vom Körper leicht abgestoßen wird.
- Und für ihre Herstellung muss ein menschlicher Embryo zerstört werden.
Erhöhtes Krebsrisiko
Die Wachstumsfreude der embryonalen Stammzellen ist schwer zu kontrollieren. Die Fähigkeit, eine bestimmte Art von Tumor zu bilden, gilt sogar als eines ihrer Erkennungsmerkmale. Die Angst vor Krebs ist also berechtigt.
Im wissenschaftlichen Sinne hat daher auch keiner der Patienten embryonale Zellen erhalten: Transplantiert wurden reife Gewebezellen, die im Labor aus embryonalen Stammzelllinien gezüchtet wurden. Dabei verlieren die Zellen ihre ursprüngliche Wandlungsfähigkeit (oder Pluripotenz) und das Krebsrisiko sinkt auf ein vertretbares Maß.
Die ersten Ergebnisse haben die Bedenken zwar gemindert, geben aber noch keine endgültige Sicherheit. Dazu sind noch deutlich größere und längere Studien nötig. Auch für die bisher Behandelten ist die Gefahr noch nicht gebannt: Solange die embryonalen Zellen im Körper überleben – und das ist vermutlich lebenslang – bleibt auch das Krebsrisiko bestehen.
Abstoßung des Transplantats
Embryonale Zellen bilden ein körperfremdes Gewebe, dessen Erbgut sich von dem des Empfängers unterscheidet. Das Immunsystem erkennt diese Unterschiede: Nach der Transplantation greift es in der Regel das fremde Gewebe an.
Es besteht daher ein hohes Risiko, dass die transplantierten Zellen vollständig abgestoßen werden – die Therapie hätte dann keine Aussicht auf Erfolg. Im schlimmsten Fall kann sich sogar eine schwere Entzündungsreaktion entwickeln, die das Leben des Empfängers bedroht.
Es gibt Medikamente, die diese Abstoßungsreaktion wirksam unterdrücken können. Allerdings haben sie oft erhebliche Nebenwirkungen. Außerdem müssen sie meist lebenslang eingenommen werden.
Ethische Bedenken
Um embryonale Zellen zu gewinnen, muss ein früher Embryo zerstört werden. Dies wird von vielen Menschen mit der Vernichtung menschlichen Lebens gleichgesetzt. Diese Tatsache hat Anfang der 2000er Jahre zu erheblichen Protesten geführt.
Vor allem die katholische Kirche lehnt die Verwendung dieser Zellen vehement ab. Zwar sind die ethischen Kontroversen derzeit abgeflaut. Sie können aber jederzeit wieder aufflammen und die Akzeptanz der embryonalen Stammzelltherapie verringern.
Erblindung – Makuladegeneration und Retinitis pigmentosa
Es gibt mehrere Krankheiten, die die Netzhaut des Auges angreifen und allmählich zur Erblindung führen. Die häufigste ist die altersbedingte Makuladegeneration (AMD). Deutlich seltener sind die Erbkrankheiten Morbus Stargardt und Retinitis pigmentosa.
Ursache ist meist ein Verlust der Sehzellen, in denen sich die Photorezeptoren befinden. Die Sehzellen lassen sich im Labor aus embryonalen Stammzellen erzeugen. Ein Transfer in die Netzhaut soll dann den Verfall des Gewebes aufhalten.
Seit 2011 wurden weltweit mehr als 10 Studien mit insgesamt rund 190 Teilnehmern durchgeführt x6. Schwerwiegende Komplikationen traten bei den Eingriffen nur selten auf. Die Ergebnisse waren jedoch gemischt: Während in einigen Fällen deutliche Verbesserungen nachgewiesen wurden, blieb die Stammzelltherapie in anderen Fällen wirkungslos1.
Um die Wirksamkeit der embryonalen Stammzelltherapie sicher beurteilen zu können, sind noch größere und längere Studien notwendig.
Typ-I-Diabetes
Beim Typ-I-Diabetes richtet sich das eigene Immunsystem gegen die ß-Zellen der Bauchspeicheldrüse. Gehen die ß-Zellen vollständig verloren, kann der Körper kein Insulin mehr produzieren. Die Folge sind lebensbedrohliche Schwankungen des Blutzuckerspiegels.
Forschende können die insulinproduzierenden ß-Zellen im Labor aus embryonalen Stammzellen erzeugen. Nach der Transplantation sollen die ß-Zellen im Körper den Blutzuckerspiegel auf möglichst natürliche Weise kontrollieren2.
Im Jahr 2014 begann die amerikanische Firma ViaCyte damit, eine embryonale Stammzelltherapie gegen Typ-1-Diabetes am Menschen zu testen. Rund 70 Studienteilnehmern wurde eine Kapsel unter die Haut implantiert, die Vorläufer von ß-Zellen enthielt. Die Zellen waren jedoch nicht dazu in der Lage, eine langfristig stabile Insulinproduktion aufzubauen.
Die Firma Vertex startet 2023 eine Studie, in der sie ausgereifte ß-Zellen über das Blut in die Leber einbringt. Bei bisher 12 Patienten konnten sich die Zellen in der Leber ansiedeln und nach einigen Wochen Insulin produzieren. Fast alle Behandelten konnten danach ganz oder teilweise auf Insulinspritzen verzichten. Die Wirkung hält bisher etwa ein Jahr an. Insgesamt sollen 37 Personen an der Studie teilnehmen.
Parkinson-Krankheit
Die Parkinson-Krankheit betrifft eine Gruppe von Nervenzellen im Gehirn, die den Botenstoff Dopamin freisetzen. Die Folgen sind Bewegungsarmut, Zittern und Muskelsteifheit.
Forscher können Dopamin-produzierende Nervenzellen im Labor aus embryonalen Stammzellen züchten. Diese Zellen werden direkt in eine bestimmte Region des Gehirns eingesetzt und sollen die motorischen Probleme lindern3.
Eine US-amerikanische Studie mit 12 Teilnehmern hat 2021 begonnen4. Eine Studie mit 8 Teilnehmern in Großbritannien und Schweden folgte 20225. Eine weitere Studie wurde in China angemeldet, ihr Status ist jedoch unklar. Von keiner dieser Studien sind bisher Ergebnisse bekannt.
Querschnittslähmung
Schwere Verletzungen der Wirbelsäule können die Nervenbahnen im Rückenmark durchtrennen. Dies kann zu einer Querschnittslähmung führen. Die Regeneration der Nervenbahnen wird von Zellen unterstützt, die als Oligodendrozyten bezeichnet werden. Oligodendrozyten umhüllen die Nervenzellen und sorgen dafür, dass elektrische Signale richtig weitergeleitet werden.
Forscher können Vorläufer der Oligodendrozyten im Labor aus embryonalen Stammzellen erzeugen. Die Transplantation dieser Zellen in das Rückenmark könnte dazu beitragen, die Regeneration der Nervenbahnen zu erleichtern.
Die erste Studie mit 5 Querschnittsgelähmten startete im Jahr 2010 – es war der weltweit erste Test von embryonalen Stammzellen beim Menschen. Der Eingriff war gut verträglich und führte auch nach 5 Jahren nicht zu unerwünschten Gewebeveränderungen. Der körperliche Zustand der behandelten Personen verbesserte sich jedoch nicht wesentlich6.
Im Jahr 2015 begann eine Folgestudie mit 25 Querschnittsgelähmten. In keinem Fall wurden Krebserkrankungen oder unnatürliche Veränderungen des Rückenmarks beobachtet. Bei den Behandelten kam es zu leichten Verbesserungen, die sich aber nicht deutlich vom natürlichen Heilungsverlauf unterschieden7.
Herzschwäche
Viele Herzerkrankungen können dazu führen, dass die Pumpfunktion des Muskels nachlässt. Eine Herzschwäche äußert sich häufig darin, dass die linke Herzkammer weniger Blut transportieren kann. Das Herz eines Erwachsenen kann sich dann in der Regel nicht mehr selbst erholen.
Embryonale Stammzellen können sich zu Vorläufern von Herzzellen entwickeln. Diese Vorläufer wurden in eine Protein-Gel eingebettet und während einer Operation in das Herzgewebe eingefügt.
Zwischen 2013 und 2016 implantierte eine Pariser Klinik die Stammzellpräparate bei 6 Menschen mit Herzinsuffizienz. Krebs oder unerwünschte Änderungen traten nicht auf. Die Untersuchung der Herzfunktion zeigte keine eindeutigen Ergebnisse: Es bleibt daher unklar, ob die Stammzelltherapie den Zustand der Behandelten verbessern konnte8.
Fazit
Embryonale Stammzellen werden seit 2010 am Menschen getestet, doch die Bilanz ist bisher gemischt. Positiv ist, dass das Risiko von Krebs und anderen Komplikationen beherrschbar scheint. In Einzelfällen hat sich auch der körperliche Zustand der Behandelten leicht verbessert.
Insgesamt hält sich der medizinische Fortschritt aber in überschaubaren Grenzen. Die embryonalen Stammzelltherapien sind noch weit von einem Durchbruch entfernt.
Zudem wächst die Konkurrenz durch die iPS-Zellen9. Diese haben ein ähnliches Potenzial wie embryonale Zellen, ihre Herstellung ist aber ethisch unbedenklich. Zudem bieten iPS-Zelltherapien die Möglichkeit, Menschen mit ihren eigenen Zellen zu behandeln. Therapien mit embryonalen Zellen werden daher in Zukunft wahrscheinlich eher in den Hintergrund treten.
Teil 2/2: Therapien mit embryonalen Zellen
2 Fujikura et al., Toward a cure for diabetes: iPSC and ESC-derived islet cell transplantation trials, Journal of Diabetes Investigation, November 2024 (Link)
alle Referenzen anzeigen
3 Moon et al., Challenges involved in cell therapy for Parkinson's disease using human pluripotent stem cells, Frontiers in Cell and Developmental Biology, Oktober 2023 (Link)4 Phase 1 Safety and Tolerability Study of MSK-DA01 Cell Therapy for Advanced Parkinson's Disease, NCT04802733, clinicaltrials.gov, abgerufen November 2024 (Link)
5 A Trial to Determine the Safety and Tolerability of Transplanted Stem Cell Derived Dopamine Neurons to the Brains of Individuals With Parkinson's Disease (STEM-PD), NCT05635409, clinicaltrials.gov, abgerufen November 2024 (Link)
6 McKenna et al., Ten-year safety of pluripotent stem cell transplantation in acute thoracic spinal cord injury, Journal of Neurosurgery. Spine, September 2022 (Link)
7 Fessler et al., A phase 1/2a dose-escalation study of oligodendrocyte progenitor cells in individuals with subacute cervical spinal cord injury, Journal of Neurosurgery. Spine, Dezember 2022 (Link)
8 Menasché et al., Transplantation of Human Embryonic Stem Cell-Derived Cardiovascular Progenitors for Severe Ischemic Left Ventricular Dysfunction, Journal of the American College of Cardiology, Januar 2018 (Link)
9 Song et al., Comparative analysis of regulations and studies on stem cell therapies: focusing on induced pluripotent stem cell (iPSC)-based treatments, Stem Cell Research & Therapy, November 2024 (Link)
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Kurz und knapp
- embryonale Stammzelltherapien sollen die Regeneration chronisch geschädigter Organe unterstützen
- erste Studien behandelten Erblindung, Diabetes, Parkinson, Querschnittslähmung und Herzschwäche
- Krebs oder unerwünschte Gewebeveränderungen traten nicht auf
- in einigen Fällen verbesserte sich der Zustand der Patienten leicht
- bislang ist jedoch nicht bewiesen, dass embryonale Stammzelltherapien wirksam sind